Gejagt
stumm den Zeilen folgte.
Was ihn einst band
Lässt ihn nun fliehen
Ort der Macht – fünf vereint
Nacht
Geist
Blut
Menschlichkeit
Erde
Nicht um zu bezwingen,
Zu überwinden vielmehr
Führt Nacht zu Geist
Bindet Blut die Menschlichkeit
Und Erde vollendet.
Noch immer den Blick auf das Gedicht gerichtet, fragte Lenobia: »Als Kalona aus der Erde brach, war das nicht seine Wiedergeburt, wie Neferet uns glauben zu machen versucht, nicht wahr?«
»Nein. Er saß da unten mehr als tausend Jahre lang gefangen.«
»Wer hatte ihn gefangen?«
»Die Cherokee. Die Ahnen meiner Grandma.«
»Dann hört sich dieses Gedicht so an, als würde, was immer die Ahnen deiner Grandma getan haben, nicht noch einmal auf die gleiche Weise wirken. Diesmal wird er in die Flucht geschlagen. Aber das ist mir ebenso recht. Wir müssen ihn nur loswerden, ehe er unser Band zu Nyx komplett durchtrennt.« Sie sah zu mir auf. »Wie haben die Cherokee ihn an die Erde gebunden?«
Ich atmete langsam aus und wünschte mir mit aller Kraft, Grandma wäre hier und hälfe mir da durch. »Ich weiß nicht – ach, ich weiß einfach nicht so viel darüber, wie ich müsste!«, stieß ich aus.
»Pssst«, machte Lenobia beruhigend und legte mir die Hand auf den Arm, als wäre ich ein nervöses Fohlen. »Warte, ich habe eine Idee.«
Sie verließ mich und kam gleich darauf mit einer dicken weichen Pferdebürste zurück, die sie mir gab. Dann trat sie wieder auf den Gang und holte einen Strohballen. Nachdem sie ihn vor die Gangwand gelegt hatte, setzte sie sich darauf, lehnte sich bequem zurück, zog einen langen goldenen Strohhalm heraus und steckte ihn sich in den Mund.
»So, striegle dein Pferd und denk laut nach. Wir werden die Lösung schon gemeinsam finden, wir drei.«
»Okay«, begann ich, während ich die Bürste an Persephones rötlichgrauem Hals entlangführte. »Grandma hat mir erzählt, dass die Ghigua-Frauen, äh, die Weisen Frauen von mehreren Stämmen, sich trafen und ein Mädchen aus Erde erschufen, einzig zu dem Zweck, um Kalona in eine Höhle zu locken, wo sie ihn fangen konnten.«
»Warte. Ein paar Frauen haben gemeinsam ein Mädchen erschaffen?«
»Ja, ich weiß, das klingt ziemlich abgefahren, aber so war es, ich schwör’s.«
»Nein, ich bezweifle nicht, dass das, was deine Grandma sagte, die Wahrheit war. Ich frage mich nur, wie viele Frauen es waren.«
»Weiß ich nicht. Alles, was Grandma sagte, war, dass A-ya im Prinzip ihr Werkzeug war, und dass jede von ihnen ihr eine besondere Gabe schenkte.«
»A-ya? So hieß das Mädchen?«
Ich nickte und sah sie über die Schulter der Stute hinweg an. »Kalona nennt mich A-ya.«
Lenobia sog erschrocken den Atem ein. »Dann bist du das Werkzeug, durch das er wiederum besiegt werden wird.«
»Ja, aber nicht besiegt, nur weggejagt«, sagte ich unwillkürlich, und dann holte mein Gehirn meinen vorschnellen Mund ein, und ich erkannte, dass meine Worte die Wahrheit gewesen waren. »Stimmt. Ich bin das Werkzeug. Nur kann man ihn diesmal nicht gefangen nehmen, weil er so was erwarten würde. Aber ich kann ihn dazu bringen, zu fliehen.« Ich redete mehr mit Persephone als mit Lenobia oder sogar mit mir selbst.
»Diesmal bist du aber nicht nur ein Werkzeug.« In Lenobias Stimme lag eine geradezu ansteckende Zuversicht. »Unsere Göttin hat dir den freien Willen geschenkt. Du hast dich für das Gute entschieden, und das Gute ist es, wovor Kalona fliehen wird.«
»Warten Sie, da war doch die Rede von ›fünf‹?«
Lenobia hob das Gedicht auf, das ich auf den Stallboden gelegt hatte. »Hier steht: ›Ort der Macht – fünf vereint‹. Und dann werden die Fünf aufgelistet: Nacht, Geist, Blut, Menschlichkeit und Erde.«
»Das
sind
Leute«, sagte ich. In mir brodelte es vor Aufregung. »Wie Damien sagte, es sind Leute, die diese fünf Dinge symbolisieren und die etwas Bestimmtes tun müssen. Und … ich wette, wenn Grandma hier wäre, könnte sie jetzt bestätigen, dass es fünf Ghigua-Frauen waren, die zusammenkamen, um A-ya zu erschaffen.«
»Fühlt sich das für dich tief in der Seele richtig an? Spricht die Göttin durch dich?«
Ich lächelte, und mein Herz hob sich, leicht wie eine Feder. »Ja! Es fühlt sich richtig an.«
»Der offensichtlichste Ort der Macht, der mir einfällt, ist hier im House of Night.«
»Nein!« Es kam schärfer heraus, als ich beabsichtigt hatte, und Persephone schnaubte nervös. Ich tätschelte und beruhigte sie und fuhr gemäßigter
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