Gejagte Der Dämmerung -9-
fest.
»Wovon redest du?«
»Steht alles da drin«, sagte er und zeigte auf das schreckliche Bestandsbuch in ihrem Schoß.
Ihr graute davor, welche Abscheulichkeiten sie noch in Hunters Kindheit und Jugend finden würde, aber offensichtlich hatte er das ganze Ding von vorne bis hinten durchgelesen. Sie nahm es wieder vom Boden und schlug es auf. Dieses Mal las sie langsamer, las die Details seiner Geburt und der Wochen und Monate danach, in denen er, anders als ihr Sohn, vom Blut seiner eigenen Mutter genährt wurde statt von Fremden. Ihr hatte man sogar diese kleine Freude versagt.
Und dann … sah sie es.
Bericht: Wenn von Mutter getrennt, zeigt Subjekt klare Trennungsangst; Schwäche diagnostiziert; Verhaltensstörung korrigieren.
Maßnahme: Kontakt zu Mutter abgebrochen; Nahrungsaufnahme auf andere menschliche Quellen und/oder Lakaien umgestellt.
Corinne blätterte einige Seiten weiter, angesichts einer unguten Vorahnung zitterten ihr die Finger, als sie den Eintrag fand, gegen den alle anderen harmlos wirkten:
Jahr 2
Bericht: Zufallsbegegnung mit Mutter im Labor; Subjekt reagiert emotional, als betreuender Lakai Kontakt verweigert; Subjekt beschädigt Laborausrüstung und zeigt klare Trotzhaltung.
Beschluss: Im Interesse der Ausbildung des Subjekts potenzielle Ablenkungen zukünftig ausschließen.
Maßnahme: Mutter getötet; Programmrichtlinien mit sofortiger Wirkung modifiziert, um Interaktion zukünftiger Subjekte und Mütter zu verhindern; Subjekte sind ausschließlich von Lakaien zu versorgen.
Corinnes Augen waren zu feucht, um weiterzulesen. Hasserfüllt stieß sie die Dokumentation von Dragos’ Wahnsinn von sich weg.
Hunters Stimme neben ihr klang hölzern. »Ich habe meine Mutter umgebracht, Corinne.« Er sagte es völlig ausdruckslos und schien gar nicht zu merken, dass ihm ein paar Tränen über sein steinernes Gesicht rannen.
»Du hast gar nichts dergleichen getan.« So zärtlich, wie sie nur konnte, streckte Corinne die Hand aus und strich mit dem Daumen über die feuchten Spuren auf seiner gerötete Wange und seinem angespannten Kiefer, und vor Kummer und Mitgefühl für ihn wollte ihr fast das Herz brechen. »Dragos hat das getan, nicht du.«
»Meine Mutter ist tot wegen mir, Corinne. Weil ich sie liebte.«
Die Schuldgefühle in seinen Augen waren so endlos, dass sie kaum Worte fand, um ihn zu trösten. Nichts, was sie sagte, konnte den Schmerz lindern, den er fühlen musste. Verlust tat immer weh, egal wie lange er schon zurücklag.
Corinne wusste aus erster Hand, wie seelenlos Dragos war, also hätte es sie nicht überraschen sollen, dass er die natürliche Bindung eines Kleinkindes an seine Mutter als Schwäche betrachtete. Als Verhaltensstörung, die sich in seinem sadistischen Programm mit einer einfachen, endgültigen Maßnahme korrigieren ließ.
Beim Gedanken, dass Hunter nach all dieser Zeit mit den Konsequenzen leben musste und auch noch glaubte, dass er schuld daran war, hätte sie Dragos am liebsten mit den Fingernägeln das rabenschwarze Herz herausgerissen und es in ihrer Faust zermalmt.
Stattdessen legte sie die Arme um Hunter und zog seinen riesenhaften Körper eng an sich. Sie küsste ihn auf den Kopf und wiegte ihn sanft, und ihre Arme spendeten diesem mächtigen Mann, der jetzt reglos auf ihrem Schoß lag und in tiefes Schweigen verfallen war, Schutz und Trost.
»Du hast nichts falsch gemacht«, versicherte sie ihm. »Es ist nie falsch, jemanden zu lieben.«
28
Es hatte an diesem Abend in Boston gleich nach Einbruch der Dämmerung zu schneien begonnen. Der kalte Dezemberwind brachte riesige Flocken mit, die auf Chases Kopf und Wangen schmolzen. Er starrte durch die tropfnassen Haarsträhnen, die ihm in die Augen hingen, und beobachtete den Rummel von ankommenden und abfahrenden Lieferwagen an Senator Robert Clarence’ teurem Anwesen in North Shore, einem exklusiven Vorort von Boston.
Er wusste nicht ganz genau, was ihn dazu gebracht hatte, vor dem Haus des jungen Politikers im Dunkeln zu lauern. Wie die Blutgier, die ihn umtrieb, ließ Chases angeborene Neugier ihm keine Ruhe, auch wenn die schicke Party, die hier offenbar nachher stattfinden sollte, ihm eigentlich scheißegal sein konnte.
Bei der Parade von Cateringfirmen und Mietwäscheservices, die sich die Klinke in die Hand gaben, musste es das gesellschaftliche Highlight der Saison werden. Ein zwölfköpfiges Salonorchester mit Streichern und Bläsern hatte seine Instrumente durch den
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