Gekehrte Straßen oder einfach nur darauf gespuckt (German Edition)
geriet nach vorne zu
kippen. Mutter stützte sich mit der rechten Hand an der kahlen
Wand ab, das Bein berührte die braune Tasche und Nicola spürte
die warme Hand seines Vaters auf seinen Fingern. Vaters warme Hand wärmte sein gefrorenes
Blut und Vater schien ihm sagen zu wollen: Nicola, hab´ kein
Mitleid, sei jetzt stark für uns alle, eines Tages wirst du
verstehen. Nicola wandte den Blick von Mutter und wischte sich mit
der freien Hand die Tränen aus dem Gesicht.
Er begriff nicht wirklich, ahnte nur, dass hier etwas falsch ablief,
zumindest nicht so, wie er es seit jeher gedacht hatte. Mutter
schaute immer noch zum Esstisch, begann aber nach dem Schlüssel
zu greifen, der an einem Nagel an der kahlen Wand hing. Sie nahm den
Schlüssel an sich und das Grinsen wich nicht aus ihrem Gesicht.
Sie tastete sich rückwärts zur Tür, öffnete die
Tür, ließ sie nur so weit offen, dass Koffer, braune
Tasche und sie selbst hindurch passten. Und so verschwand Mutter für
immer aus unserem und aus meinem Leben,
ohne ein einziges Wort des Abschiedes. Aber dafür wich das
Grinsen nicht mehr aus ihrem Gesicht.
Nicola ist
seiner Mutter nie wieder begegnet. Er hatte sich über viele
Jahre hinweg immer wieder gefragt, warum Mutter vergessen hatte, ihn
mit durch die Tür zu schieben, nicht
aber den Koffer und die braune Tasche. Und so lange er sich diese
Frage stellte, versuchte Nicola nicht mehr zuzunehmen als notwendig
war, falls Mutter zurückkommen würde, um ihn nachträglich
durch die Tür zu schieben. Dafür liegt Nicola jetzt in
seinem Bett und riecht seinen eigenen Atem, der nach Wein und
Verlorenheit riecht und bringt in so einem Moment vollstes
Verständnis für seine Mutter auf, die sich retten, sich selbst nur retten wollte und ohne
ihn davon schwamm, ringsherum um viele verschiedenen Inseln umher
schwamm, in immer demselben Wasser und darin sich, gemäß
ihrer selbst treiben ließ. Das Wasser, die Straße, der
Weg, das Ziel, das Leben, die Freude und das Leid, für einen
jeden erreichbar und für einen jeden eine Möglichkeit und
Chance sich darin fallen zu lassen, hinein zuspringen. Darauf zu
gehen, um eines Tages wieder aufzutauchen
und auf das Land sich sicher zu begeben. Ich, Nicola, habe mir als
Kind auch einen Ort der Ruhe und der Herzlichkeit gesucht und auch
beinahe gefunden. Es war ein kleiner Teich, einige Minuten von meinem
zu Hause entfernt. Ich ging oft alleine dort hin und meine Angst vor
dem nach Hause gehen und nicht abgeholt
zu werden von Mutter, wich der Angst vor diesem Teich. Der Teich war
gruselig, er war dunkel und düster und es hüpften tausende
von Fröschen herum und am Rande des Teiches waren Millionen
Laichen der Kaulquappen vorzufinden. Ich hatte Angst vor dem Wasser,
aber vor dem Teich mit seinen Fröschen noch viel mehr. Dieses
bisschen Natur, dieses düstere
Wasser, umgeben von matschigen Erdballen und ellenlangen
Grashalmen verkörperte mein Grauen. Und doch zog
es mich immer wieder dort hin und immer wieder ging ich mit
einer Erleichterung anschließend nach Hause. Wahrscheinlich
glaubte ich, dieses Grauen besiegt zu haben, da ich immer wieder das
Glück hatte, nicht hinein gefallen und nicht darin ertrunken zu
sein und von den vielen Fröschen nicht aufgefressen zu werden,
um als Toter, umrandet und übersät von ihren schleimigen
Froschbabys unentdeckt für immer da zu liegen. So findet
jeder seine kleine Insel der Ruhe oder seine Insel des Grauens,
findet das kalte Wasser drumherum und begibt sich kopfüber
hinein oder aber er betrachtet es ein
Leben lang aus sicherer Entfernung. Meistens aber haben die Inseln
und das Wasser mit Abschied, Schmerz und
der ureigenen Angst zu tun und mit der Suche nach sich selbst, nach
dem eigentlichen Leben und der Suche nach einem angemessenen und
befriedigenden Sinn. Ich suche nicht mehr. Ich suche nicht nach Sinn
und nicht nach Befriedigung. Ich lebe nur ganz einfach, weil es mir
auferlegt wurde und ich zu feige bin, es zu beenden. So warte ich.
Ich lebe. Vielleicht suche ich noch nach ein paar preisgünstigen
Schuhen für den Winter, aber das war es auch schon. Einmal ging
ich doch in Begleitung eines Freundes zu diesem Teich. Ich
weiß nicht warum, aber er ließ sich überreden mitzukommen. Er war sichtlich angetan von
dieser Atmosphäre, hatte keine Angst
und ging sogar bis zu den Knien in den Teich hinein. Ich erkannte,
dass er keine Angst mit sich trug, da er schwimmen konnte. Er war ein
sicherer Mensch. Ich erkannte auch, dass er
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