Geködert
Fernzüge der Luxusklasse, mit Bar, Speisewagen und Schlafwagen. Durch einen speziell für diesen Zweck gebauten Tunnel geleiteten mit riesigen Koffern aus Krokodil- und Schweinsleder beladene Gepäckträger und Pagen in Livree die angekommenen Gäste unter der Straße und dem brausenden Verkehr hindurch, direkt in das feudale Hotelfoyer des berühmten Excelsior nebenan. Dort wohnte man in bequemer Nachbarschaft zum Gesandtschaftsviertel am Tiergarten, zu den vornehmen Geschäften an der Leipziger Straße, unweit der Straße Unter den Linden und des Herzens der Hauptstadt. Tagsüber beherrschte hier der Verkehr die Szenerie, und das Nachtleben hörte erst mit dem kostenlosen Frühstück für jeden noch wachen Nachtvogel auf.
Nun war vom Anhalter Bahnhof nur mehr ein Teil der Stirnwand der Schalterhalle erhalten. Im Sommer war das Gelände hinter dieser Wand von dickem Unkraut und Gebüsch überwuchert, und während unserer Schulzeit hatten Werner und ich uns oft dort zwischen den im Dickicht verborgenen Stellwerken, Lokomotivschuppen, ausgeweideten, verrosteten Schlafwagen und anderen Ruinen des Eisenbahnzeitalters herumgetrieben. Seit Kriegsende ist auf den Gleisen der Südbahn hinter dem ehemaligen Bahnhofsgelände ein regelrechter Urwald entstanden.
Was auf der Nordseite des Anhalter Bahnhofs stehen geblieben war, machte nicht mehr viel her. Man hätte die ramponierten Fassaden, die da noch vereinzelt aufragten, für Filmkulissen halten können, wenn sie nicht so authentisch schmutzig gewesen wären. Dort, wo einst das Zentrum Europas war, war jetzt nichts mehr. Wer nun unterwegs in die Kochstraße oder zum Checkpoint Charlie am ehemaligen Anhalter Bahnhof vorbeifuhr, machte, dass er weiterkam.
Dennoch hat erstaunlicherweise das Café Leuschner bis heute dort ausgehalten. Willi Leuschner mochte mit der Aufstellung der Jukebox einen bedauerlichen Fehler gemacht haben, aber er zapfte ein gutes Bier, und seine österreichische Frau servierte noch immer einmal in der Woche den besten Tafelspitz in der Stadt. Und zu dem zartgekochten Rindfleisch gab es bei ihr kleine Kartoffelklöße, der Kohl war in Bratenfett gegart und mit Kümmel gewürzt.
Als Werner sich den letzten Bissen seiner gigantischen Portion Rindfleisch mit viel zuviel geriebenem Meerrettich in den Mund geschoben hatte, fand ich es an der Zeit, das Thema anzuschneiden, das ich mit Werner besprechen wollte. Ich sagte: »Jedenfalls sieht Lisl hervorragend aus.«
»Du hast sie nur für fünf Minuten gesehen«, sagte Werner und wischte mit einem Stück Brot den Rest des Meerrettichs von seinem Teller. Ihm trieb das Zeug nicht wie mir die Tränen in die Augen.
»Sie schlief noch, als ich heute morgen ging, und ich wollte sie nicht stören«, sagte ich. Ich versuchte es noch einmal mit dem Meerrettich, den liegen zu lassen ich schon beschlossen hatte. Wieder fand ich schon das kleine bisschen, das ich an der Gabel hatte, sehr, sehr scharf.
»Sie ist eine dumme alte Frau«, sagte Werner in einem Ausbruch von ungewohnter Bitterkeit. Daran konnte man erkennen, wie frustriert er war. »Tausendmal hat der Arzt ihr gesagt, dass sie abnehmen und sich schonen soll. Statt dessen trinkt sie, raucht, regt sich auf, streitet herum. Es ist absurd.« Vielleicht war der Ton, in dem er das hervorstieß, nicht so sehr erbittert als traurig.
»Und du sagst, sie hat einen Schlaganfall gehabt?«
»Die Leute im Krankenhaus sagen, dass die Untersuchungsergebnisse nicht ganz eindeutig sind.« Er steckte sich das letzte Stück Brot in den Mund. »Aber wie dem auch sei, jedenfalls muss sie sich unbedingt zur Ruhe setzen.«
»Aber wer wird sich um den Verkauf des Hauses kümmern?« Mir wurde plötzlich klar, wieviel Arbeit das machen würde. Verhandlungen mit Grundstücksmaklern und Banken, mit Rechtsanwälten und Steuerberatern, dazu zig Formulare und der kleinliche bürokratische Papierkrieg – alles, was eine einfache Transaktion zu einem Alptraum macht. »Das Beste wäre, wenn man Lisl überzeugen könnte, wegzufahren, bis alles erledigt ist. Vielleicht können wir ihr ein Quartier in Baden-Baden besorgen. Sie hat immer gesagt, dass sie gerne mal in Baden Urlaub machen würde.«
Er sah mich an und bedachte mich mit einem schiefen, kleinen Lächeln. »Und wer von uns beiden wird Lisl das alles beibringen?« fragte er.
In dem Augenblick kam Willi Leuschner an den Tisch, um abzuräumen. »Was wollt ihr zwei denn als nächstes?« fragte er. »Brotkuchen?« Willi war in meinem Alter,
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