Geködert
doch sein Kopf war schon kahl, und der große, an den Spitzen gekrümmte Schnurrbart, den er sich zum Ausgleich hatte stehenlassen, war altersgrau und vom Nikotin vergilbt.
Er duzte uns, weil wir drei zusammen zur Schule gegangen waren und einander besser kannten als unsere Frauen. Bei mir war es jedenfalls so. Und Willi wusste, dass Werner und ich uns an dem Brotkuchcn nicht satt essen konnten. Frau Leuschner hatte das Rezept aus den Kriegsjahren durch die Hinzufügung von Eiern und Sahne zu einer Schöpfung ihrer besonderen Art von Haute Cuisine veredelt. Willi wartete denn auch gar nicht auf eine Antwort. Er wischte den Tisch ab und ging in die Küche, die Biergläser und Bestecke geschickt auf den Tellern balancierend. Willis Vater hatte noch über einen furchteinflößenden Maitre d’ und ein Dutzend befrackte Kellner geboten, denen weißjackige Lehrlinge assistierten. Für Willi und seinen Bruder arbeiteten zwei junge Leute aus der Kreuzberger Szene, die morgens meist mit glasigen Augen und zittrigen Händen antanzten.
»Ich weiß, was du denkst, Werner«, sagte ich, als Willi gegangen war.
»Was denke ich denn?« Er sah aus dem Fenster auf die fast leere Straße hinaus. Der gestern gefallene Schnee war geschmolzen, aber seitdem war die Temperatur stark gefallen, und dem niedrigen, grauen Himmel war anzusehen, dass es bald mehr Schnee geben würde.
»Du denkst, dass ich’s mir ganz schön leichtmache. Ich komme hier hereingeschneit, sage, was für Lisl zu tun ist, und dann haue ich wieder ab und überlasse dir die Arbeit.«
»Wieso, Bernie?« sagte Werner. »Lisl ist mein Problem, nicht deins.«
»Sie hat nur uns«, sagte ich. »Was zu tun ist, werden wir zusammen machen. Ich werde mir Urlaub nehmen.« Werner nickte trübselig mit dem Kopf, also versuchte ich, energisch zu wirken: »Das Haus zu verkaufen dürfte nicht allzu schwierig sein. Aber wir müssen Lisl irgendwo anders unterbringen. Irgendwo, wo es ihr gefällt.«
»Ich bin Jude«, sagte Werner plötzlich. »Im Krieg geboren. Ich heiße Isaak wie mein Vater, aber dann haben sie mich Werner genannt, weil das arisch klang. Lisl hat meine Eltern versteckt. Sie hat nichts daran verdient, denn meine Eltern hatten kein Geld. Sie hat ihr Leben riskiert. Die Nazis haben Leute mit weniger Grund in die Lager geschickt. Ich weiß nicht, warum Lisl dieses Risiko eingegangen ist. Manchmal frage ich mich, ob ich so wie sie Leuten helfen würde, die mir relativ fremd sind. Ich bin keineswegs sicher, das kann ich dir sagen. Aber Lisl hat sie versteckt, und als ich geboren wurde, hat sie mich auch versteckt. Und als meine Eltern starben, hat sie mich aufgezogen, als wäre ich ihr eigenes Kind. Verstehst du?«
»Wir machen’s zusammen«, sagte ich.
»Was?«
»Das Haus verkaufen. Lisl in einem anständigen Altersheim unterbringen. Klara auch.«
»Spinnst du?« sagte Werner. »In tausend Jahren kriegst du sie nicht aus diesem Haus raus.«
Ich sah ihn an. Er hatte die unergründliche Miene aufgesetzt, die er sich schon als Schuljunge angeeignet hatte. »Also, was hast du vor? Sollen sie das Haus um sie herum abreißen?«
»Ich werde die Leitung des Hotels übernehmen«, sagte Werner. Er starrte mich herausfordernd an, als erwarte er heftigen Widerspruch oder aber höhnisches Gelächter.
»Die Leitung des Hotels übernehmen?« fragte ich verblüfft.
»Ich bin schließlich bei ihr aufgewachsen, nicht? Und habe früher sogar ihre Buchführung gemacht. Ich verstehe genug von dem Geschäft.«
»Sie wird dir nicht erlauben, irgendwas zu ändern«, sagte ich warnend.
»Ich werde alles tun, was ich für nötig halte«, entgegnete Werner ruhig. Sein Ton rief mir in Erinnerung, dass unter meinen Berliner Freunden Lisl nicht die einzige Person mit eisernem Willen war.
»Und denkst du, du kannst einen Gewinn erwirtschaften?« fragte ich.
»Es reicht, wenn der Laden sich trägt.«
»Und was ist mit dem Wechselbürgschaftsgeschäft?«
»Ich geb’ es auf.«
»Ich glaube, das solltest du dir noch mal überlegen, Werner«, sagte ich beunruhigt. Mir waren gerade die möglichen Konsequenzen eines solchen Schrittes eingefallen.
»Ich habe mich schon entschieden.«
»Wo wirst du wohnen?«
Er lächelte angesichts meiner Bestürzung. Möglicherweise entschädigte ihn das, vielleicht hatte er sich schon darauf gefreut. »Ich nehme eines von den Zimmern im Obergeschoss, aus meiner Wohnung ziehe ich aus.«
»Und was ist mit Zena?« fragte ich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Werners junge,
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