Geködert
nichts mit Lisl gemein. Sie wirkte sehr zart und
zerbrechlich, die Haut wie fleckiges vergilbtes Pergament, das
dünne weiße Haar so sorgfältig arrangiert, als sei sie uns zu
Ehren noch heute morgen beim Friseur gewesen. Ich
betrachtete sie mit Interesse. Sie war sogar noch älter als Lisl,
weiß der Himmel, wie alt. Aber diese Frau hatte sich mit dem
Alter abgefunden. Sie hatte sich weder die Haare färben lassen
noch ihr Gesicht geschminkt oder, wie es Lisl tat, wenn sie
Besuch erwartete, falsche Augenwimpern aufgeklebt. Trotz der
Unterschiede war jedoch die Familienähnlichkeit
unverkennbar. Sie hatte das gleiche eigenwillige Kinn wie ihre
Schwester, die gleichen großen Augen und den gleichen Mund,
der einen so gewinnend anlächeln wie vernichtend anfauchen
konnte.
»Sie sind also ein Freund meiner Schwester?« Die Wörter
waren englisch, die Aussprache amerikanisch, aber der
Konstruktion der Sätze war anzuhören, dass sie in deutscher
Sprache dachte. Ich rückte ein wenig näher, um sie nicht bitten
zu müssen, lauter zu sprechen.
»Ich kenne sie schon seit langem«, sagte ich. »Noch vor ein
paar Wochen bin ich bei ihr gewesen.«
»Geht es ihr gut?« Sie blickte zu ihrer Tochter und sagte:
»Bringst du den Tee?« Die jüngere Frau lächelte gehorsam und
verließ das Zimmer.
Ich überlegte kurz, wie ich ihr am besten Lisls
Gesundheitszustand beschreiben sollte. Ich wollte sie nicht
ängstigen. »Sie könnte einen sehr leichten Schlaganfall gehabt
haben«, sagte ich vorsichtig. »Sehr leicht. Die Ärzte im
Krankenhaus sind sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt
einer war.«
»Und deshalb sind Sie hier?« Jetzt fielen mir ihre Augen
auf. Katzenaugen. Grün und tief und leuchtend. Ich konnte
mich nicht erinnern, jemals einem Menschen mit solchen
Augen begegnet zu sein.
Diese alte Frau war jedenfalls jemand, der nicht lange um
den heißen Brei herumredete. »Nein«, sagte ich. »Aber sie wird
das Hotel aufgeben müssen. Der Arzt sagt, sie muss sich
schonen.«
»Natürlich. Jeder sagt ihr das früher oder später. Sie hat sich
schon immer zuviel zugemutet.«
»Das Haus gehörte Ihrem Vater, nicht wahr?« sagte ich. »Ja. Ich verbinde viele wunderschöne Erinnerungen damit.« »Es ist ein herrlicher alter Bau«, sagte ich. »Ich wünschte,
ich hätte es zur Zeit Ihres Vaters gekannt. Aber die steile
Treppe ins Hochparterre ist jetzt für Lisl zu beschwerlich. Sie
muss irgendwo hinziehen, wo alle Räume im Erdgeschoss
liegen.«
»So. Und wer kümmert sich um sie?«
»Haben Sie je von Werner Volkmann gehört?«
»Dem Juden?«
»Dem Jungen, den Lisl aufgezogen hat.«
»Diese jüdische Familie, die sie im Obergeschoss versteckt
hatte. Ja, meine Schwester war vollkommen verrückt. Ich habe bis 1945 in Berlin gelebt. Selbst mich hat sie nicht ins Vertrauen gezogen. Können Sie sich vorstellen, dass sie so etwas sogar vor ihrer eigenen Schwester geheimgehalten hat? Ich habe sie während der Zeit oft besucht, das Haus gehörte ja
zum Teil mir.«
»Wirklich erstaunlich«, bestätigte ich pflichtschuldig. »Dieser Judenjunge, den sie großgezogen hat, kümmert sich
also um sie.« Sie nickte.
»Inzwischen ist er kein Junge mehr«, sagte ich.
»Vermutlich nicht. Also, was hat er davon?«
»Nichts«, sagte ich. »Er hat das Gefühl, dass er’s Lisl
schuldig ist.«
»Er rechnet damit, das Haus zu erben, ist es das?« Mit
einem bösartigen kleinen Kichern sah sie Gloria an. Gloria saß
in einem geschnitzten hölzernen Stuhl. Unter dem Blick der
Alten rutschte sie unbehaglich auf die andere Seite.
»Davon ist mir nichts bekannt«, sagte ich abwehrend. Ich
hätte mir die Reise hierher also sparen können. Hat die
bösartige Alte mich in voller Absicht in die Enge und zu dieser
Antwort getrieben? fragte ich mich. Ich dachte noch darüber
nach, als die Tochter wieder ins Zimmer kam mit Tee und einer
tarte aux pommes .
»Den hat Ingrid gebacken«, sagte die alte Frau, als sie
bemerkte, wie ich den flachen Kuchen ansah, auf dem dünne,
appetitlich gebräunte Apfelschnitzel fächerartig ausgelegt
waren.
»Sieht wunderbar aus«, sagte ich, ohne hinzuzufügen, dass
nach dem »leichten Imbiss« während des Fluges fast alles
Eßbare wunderbar ausgesehen hätte. Auch Gloria äußerte
murmelnd Bewunderung, und die Tochter schnitt uns große
Stücke ab.
Während wir Kuchen und Tee genossen, fragte ich die alte
Frau nach dem Leben in Berlin vor dem Krieg. Sie hatte ein
ausgezeichnetes Gedächtnis und antwortete ausführlich auf alle meine
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