Geködert
das?«
»Bist du Engländer oder Deutscher oder gar nichts? Ich bin gar nichts. Ich dachte früher immer, ich wäre Engländerin, aber das war ein Irrtum.«
»Ich dachte immer, dass ich Deutscher wäre«, sagte ich. »Wenigstens dachte ich immer, dass mich meine deutschen Freunde für einen Berliner hielten, was sogar noch besser war. Und dann eines Abends spielte ich Karten mit Lisl und einem alten Mann namens Koch, und da kam heraus, dass sie mich für einen Engländer hielten und nie für was anderes gehalten hatten. Ich war ganz schön verletzt.«
»Aber du wolltest beides haben, Liebling. Bei deinen englischen Freunden wolltest du Engländer sein, und deine deutschen Freunde sollten dich auch für einen von ihnen halten.«
»Wahrscheinlich.«
»Meine Eltern sind Ungarn, aber ich bin nie in Ungarn gewesen. Ich bin in England aufgewachsen und habe mich immer für hundertprozentig englisch gehalten. Ich war ein Superpatriot. Ich lernte all diese herrlichen Shakespeare-Reden über England auswendig und duldete kein schlechtes Wort gegen die Königin, und Leute, die bei der Nationalhymne nicht aufstanden, sah ich schief an. Und dann sagte mir eines Tages ein Mädchen in der Schule die Wahrheit über mich selbst.«
»Welche Wahrheit?«
»Ihr Ungarn, sagte sie. Die anderen Mädchen hörten sie, ich wusste, dass ich das nicht auf mir sitzen lassen konnte. Ich sagte:
Ich bin in England geboren. Na und? sagte sie. Und wenn du in einer Apfelsinenkiste geboren worden wärst, wärst du dann eine Apfelsine? Die anderen Mädchen lachten. Ich habe die ganze Nacht geheult.«
»Arme Kleine.«
»Ich bin nichts. Aber das macht nichts. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt.«
»Auf uns Nichtse also«, sagte ich, das Glas mit dem letzten Rest des Armagnacs erhebend, ehe ich es leerte.
»Wir werden nichts mehr zu essen kriegen, wenn du dich nicht beeilst«, sagte sie. »Geh unter die Dusche.«
8
Es gab natürlich kein Frühstückszimmer. Diese Sorte französischer Hotels haben nie eins. Und im Gegensatz zu Gloria esse ich nicht gern im Bett. So saß sie im Bett, ein Tablett auf den Knien, und ich, auf einem Stuhl daneben, trank eben meine zweite Tasse Kaffee, als das Telefon klingelte.
Ich wusste, dass es die Damen Winter waren. Niemand anders wusste, wo ich zu erreichen war. In Missachtung der Bestimmungen hatte ich nicht mal bei meiner Dienststelle eine Kontaktnummer hinterlassen. Wenn man ausländische Kontaktnummern hinterließ, konnte es einem passieren, dass man gefragt wurde, wo man gewesen sei und warum.
»Hier spricht Ingrid Winter. Meine Mutter fühlt sich heute viel kräftiger und läßt fragen, ob Sie nicht Lust hätten, zum Mittagessen zu kommen?«
»Danke. Ich habe Lust«, sagte ich. Gloria, die mitgehört hatte, wedelte heftig mit dem Zeigefinger für den Fall, dass mir das Kopfschütteln nicht aufgefallen war. »Aber Miss Kent hat eine Verabredung in Cannes. Sie könnte mich vorbeibringen und später abholen, wenn Sie mir sagen wollen, wann es Ihnen passt?«
»Zwischen elf und drei«, sagte die jüngere Frau Winter, ohne zu zögern. Die Familie Winter schien auf alles eine Antwort parat zu haben.
Gloria setzte mich fünf Minuten vor der Zeit am Gartentor ab. Das war nie schlecht, wenn man zu Deutschen ging. »Pünktlich auf die Minute«, sagte Ingrid Winter beifällig, als sie mir die Tür öffnete. Wir wechselten die gleichen Höflichkeitsfloskeln wie am Tage zuvor, während sie meinen Mantel nahm, aber heute schien sie umgänglicher. »Lassen Sie mich schnell die Tür zumachen. Dieser gelbe Staub dringt überall ein, wenn der Wind vom Süden kommt. Der Scirocco. Kaum zu glauben, dass der Sand von der Sahara bis hierher kommt, nicht?«
»Kaum zu glauben«, bestätigte ich.
Sie schloss meinen Regenmantel in einen Schrank, auf den große orange Blüten gemalt waren. »Meine Mutter ist eine sehr alte Dame, Mr. Samson.«
Ich sagte, ja natürlich sei sie das, und Ingrid Winter sah mich an, als wollte sie mir damit etwas Besonderes sagen. Sie wirkte fast besorgt. Dann wiederholte sie: »Eine sehr alte Dame.« Nach einer kleinen Pause setzte sie hinzu: »Kommen Sie!«
Damit machte sie kehrt und ging voran, nicht in das Wohnzimmer, sondern einen gefliesten Korridor entlang, in dem Kupferstiche alter deutscher Städte hingen, zu einem Raum an der Rückseite des Hauses. Natürlich war hier nicht immer ihr Schlafzimmer gewesen. Wie Lisl hatte sie ein Zimmer im Parterre für sich herrichten lassen. Wenige Menschen in
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