Geködert
Zuhörer die Leute, von denen sie redete, nicht kannten. Sie spickte die Anekdoten mit Bemerkungen wie »Ihr wisst doch noch, dieses Zeug, das Fritz immer trank«, oder »Der Tisch, an dem Pauli und ich immer saßen in der Königin am Ku’damm«. Einmal unterbrach sie ihren Bericht über einen rauschenden Ball im Jahre 1938 und fragte Ingrid: »Wie hieß doch noch das Haus, wo dieser Göring diesen wundervollen Ball gab?«
»Haus der Flieger«, antwortete Ingrid. Ich muss sehr verblüfft ausgesehen haben, denn sie fügte hinzu: »Inzwischen kenne ich Mamas Geschichten sehr gut, Herr Samson.«
Nach dem Essen versiegte der Redefluss der alten Dame. Ingrid sagte: »Meine Mutter wird müde sein. Ich glaube, sie sollte jetzt ein wenig schlafen.«
»Natürlich. Kann ich irgendwie helfen?«
»Sie läßt sich nicht gerne helfen. Ich glaube, sie schafft es auch so.« Ich blieb also sitzen, während Ingrid die Mutter ins Schlafzimmer begleitete. Es war noch ungefähr eine Viertelstunde vor der mit Gloria verabredeten Zeit, und so lud Ingrid mich ein, sie in die Küche zu begleiten und dort noch eine Tasse Kaffee mit ihr zu trinken.
Ingrid Winter wurde mir immer sympathischer. Meine Bemerkung, dass ich es großzügig von ihr fände, auf ihren Anteil am Haus zu verzichten, wehrte sie mit einer Handbewegung ab. »Wenn Mama stirbt, und wenn Tante Lisl stirbt«, sagte sie – und mir fiel auf, dass sie den Tod nicht mit einem der gebräuchlichen Euphemismen umschrieb –, »was soll ich dann mit einem Haus in Berlin?«
»Sie leben lieber in Frankreich?« fragte ich.
Sie sah mich einen Augenblick an, ehe sie antwortete: »Mama liebt das Klima.« Was ihr persönlich gefiel oder nicht gefiel, kam nicht zur Sprache.
»Wie die meisten Leute«, sagte ich.
Sie antwortete nicht. Sie schenkte mir Kaffee nach und sagte: »Sie dürfen nicht ernst nehmen, was Mama redet.«
»Sie ist doch eine fabelhafte Frau für ihr Alter.«
»Das mag schon sein, aber sie ist bösartig. Alte Leute machen gerne Unfug. In dieser Hinsicht sind sie wie Kinder.«
»Ich verstehe«, sagte ich und hoffte, dass sie das näher erklären würde.
»Sie lügt.« Da diese Eröffnung mich nicht zu beeindrucken schien, wurde sie deutlicher. »Sie tut so, als glaubte sie, was man ihr erzählt, aber sie hat einen glasklaren Verstand. Sie weiß ganz genau, dass Sie kein Schriftsteller sind.« Sie wartete.
»Ach, wirklich?« sagte ich in gelangweiltem Ton und nippte an meinem Kaffee.
»Sie wusste schon, ehe Sie hier ankamen, wer Sie wirklich sind. Sie hat vor langer Zeit Ihren Vater gekannt. Vor dem Krieg, sagt sie. Sie hat mir erzählt, dass Ihr Vater ein englischer Spion war. Sie sagt, dass Sie wahrscheinlich auch einer sind.«
»Sie ist eine sehr alte Frau.«
»Mama sagt, dass Ihr Vater ihren Mann umgebracht hat.« »Das hat sie gesagt?«
»Genau mit diesen Worten. ›Der Vater dieses Mannes hat meinen lieben Mann umgebracht‹ hat sie gesagt, und dass ich mich vor Ihnen in acht nehmen soll.«
»Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen, Frau Winter, aber ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Ihre Frau Mutter da redet. Mein Vater war Offizier der britischen Armee, aber nicht bei einer kämpfenden Einheit. Nach dem Krieg war er in Berlin stationiert, und in der Zeit könnte sie dort seine Bekanntschaft gemacht haben. Vor dem Krieg war er Handlungsreisender. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass sie ihn schon vor dem Krieg gekannt hat.«
Ingrid Winter zuckte mit den Achseln. Sie würde sich niemals für die Zuverlässigkeit der Behauptungen ihrer Mutter verbürgen.
Eine Hupe ertönte, und ich stand auf. Als Ingrid Winter mir meinen Mantel reichte, sprachen wir wieder über das launische Wetter. Beim Abschied fragte ich mich, warum wohl ihre Mutter gesagt hatte, mein Vater habe ihren »lieben Mann« getötet, anstatt: »Der Vater dieses Mannes hat deinen Vater getötet«. Ich wusste nicht viel von Inge Winters Mann außer dem wenigen, das ich von Lisl gehört hatte: dass Paul Winter Beamter an einem Berliner Ministerium gewesen und kurz nach dem Krieg irgendwo in Süddeutschland gestorben war. Nun, nachdem ich Ingrid kennengelernt hatte, von deren Existenz Lisl keine Ahnung zu haben schien, konnte ich nur sagen, dass mir noch sehr viel an der Familie Winter rätselhaft war, nicht zuletzt die Frage, was mein Vater mit ihr zu tun gehabt haben mochte.
9
Den letzten Abend unseres hektischen provenzalischen Wochenendes verbrachten wir bei einem »Onkel« von Gloria, der in der
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