Geködert
Gegend wohnte. Tatsächlich war der Mann kein Blutsverwandter, aber er war ein alter Freund ihrer ungarischen Eltern, und Ungarn im Exil sind eine große Familie aus lauter verrückten, kongenialen und anstrengenden Persönlichkeiten, die, egal, wie zurückgezogen sie leben, immer erstaunlich gut über die Aktivitäten ihrer »Verwandten« informiert sind. Er nannte sie Zu. So wurde sie von allen ihren ungarischen Freunden genannt. Zu war die Kurzform von Zsuzsa, ihrem Taufnamen. Glorias ungarischer Onkel lebte in einer halbverfallenen Hütte, die einsam an einem Hang stand, zwischen Weinreben und einer verlassenen Ölmühle. Neben der Hütte lag ein kleiner Küchengarten, wo jetzt Nacktschnecken die letzten Blätter des Wintergemüses vom vergangenen Jahr abfraßen, und vor der Tür, am Rande eines Abwassergrabens, stand ein zerbeulter 2 CV, von dessen Scheinwerfern einer fehlte.
Vorgestellt wurde mir Glorias Onkel als »Dodo«, und nach dem kräftigen Händedruck zu urteilen, mit dem er mich willkommen hieß, war ihm der Spitzname nur recht. Auf den ersten Blick schien dieser Mann um die sechzig zu sein, ein kleiner, dicker und temperamentvoller Typ, den jeder Regisseur sofort für die Rolle des liebenswerten ungarischen Exilanten engagieren würde. Er hatte volles, schneeweißes Haar, das er glatt zurückgebürstet trug, und einen großen struppigen Schnurrbart von eher grauer Farbe. Sein Gesicht war rot, vielleicht weil er offensichtlich gern trank, denn die ganze Behausung war voller leerer und voller Flaschen, und er schien schon recht angeheitert, als wir kamen. In welchem Maße der genossene Alkohol seine sprachlichen Fähigkeiten steigerte, weiß ich nicht, jedenfalls war sein Englisch ausgezeichnet und außer der ohne Ansehen der Person gebrauchten Anrede »Darling« auch nicht von irgendwelchen exotischen Eigentümlichkeiten geprägt.
Er trug eine alte, braune Cordhose, die hier und da schon bis auf das Futter abgeschabt war, und einen zottigen roten Rollkragenpullover, der ihm fast bis auf die Knie reichte. Seine Stiefel hatten Reißverschlüsse an den Innenseiten der Schäfte und zehn Zentimeter hohe Absätze. Er reichte uns gefüllte Weingläser und führte uns zu einem langen, durchgesessenen Sofa vor dem flackernden Kaminfeuer und redete ohne Atempause.
Sein Haus stand ungefähr dreißig Kilometer weit entfernt von Le Mas des Vignes Blanches, wo die Winters wohnten, aber Dodo schien über sie gut Bescheid zu wissen. Inge Winter war bei den Einheimischen als die »Hitler-Frau« bekannt, da ein geschwätziger Klempner dort einmal ein Rohr repariert und anschließend der ganzen Nachbarschaft von dem Hitler-Foto der alten Frau erzählt hatte.
Als Dodo hörte, dass wir seine geheimnisvollen Nachbarn besucht hatten, gab er sogleich ein paar witzige Anekdoten über Inges Schwiegervater zum besten, die er in seiner Wiener Zeit aufgeschnappt hatte. Der alte Harald Winter war ein reicher Geschäftsmann gewesen, der viel von sich reden zu machen wusste: mit seinem Rennwagen, seinem Jähzorn, seiner unversöhnlichen Rachsucht, den Damen der besten Gesellschaft, die ihm in seiner Loge in der Oper Gesellschaft leisteten, den Unsummen, die er für den Schmuck ausgab, mit dem er die Damen seiner Wahl schmückte, dem lächerlichen Duell, zu dem er den alten Professor Schneider forderte, den Gynäkologen, der seine Frau von ihrem zweiten Sohn entbunden hatte.
»In meines Vaters Zeit war Harry Winter das Stadtgespräch in Wien. Und noch heute erzählen die älteren Leute Geschichten von ihm. Das meiste ist wahrscheinlich mehr oder weniger erfunden. Aber er hatte eine sehr schöne Geliebte. Das kann ich bezeugen, denn die habe ich selbst oft gesehen. 1942 studierte ich Chemie in Wien, und meine Tante, bei der ich wohnte, schneiderte für sie. Die Zeiten waren nicht die besten für Harrys Geliebte. Es war ja schon Krieg, die Nazis herrschten in Österreich, und sie war Jüdin. Sie war Ungarin und plauderte gern mit meiner Tante in ihrer Muttersprache. Eines Tages kam sie nicht zur Anprobe. Später hörten wir, dass sie in ein Lager abtransportiert worden war. Bei der Gestapo war nicht einmal mit Geld was zu machen.« Nach dieser Feststellung schnaufte er und ging in die Küche, um irgend etwas umzurühren. Als er zurückkam, warf er ein großes Holzscheit auf das Feuer im Kamin. Das Holz war feucht und zischte in der Glut.
Dodos Hütte war in keinster Weise mit dem geschmackvoll ordentlichen Winterschen Haus zu
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