Geködert
trug eine teuer aussehende Armbanduhr und verschiedene Ringe, aber keinen Ehering.
Ich murmelte ein paar Banalitäten über die ständige Verschlechterung des Klimas, während sie uns genauer ins Visier nahm. Da hatte Lisl also eine Nichte. Sie sah Lisl nicht im geringsten ähnlich, aber ich erinnerte mich an ein Foto von Lisls Mutter in einem Kleid mit Puffärmeln, einen wagenradgroßen Hut auf dem Kopf. Sie war eine ähnlich stark gebaute Frau. »Wie geht es Ihrer Mutter?« fragte ich, während Gloria vor einem Spiegel im Entree ihr Aussehen prüfte und ihr Haar zurechtzupfte.
»Mal so, mal so, Mr. Samson. Heute hat sie einen ihrer besseren Tage. Ich muss Sie aber bitten, nicht lange zu bleiben.
Sie ermüdet leicht.«
»Natürlich.«
Wir betraten ein großes Wohnzimmer. Mehrere Heizkörper hielten es warm, trotz der großen Fenster, aus denen man in
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den Vorgarten hinaussah. Der Fußboden war mit den roten Kacheln gefliest, die man in der Gegend häufig verwendet.
Wie zufällig lagen hier und da gemusterte Teppiche. Ein großes Gemälde beherrschte den Raum. Eine Schlacht, wie man sie im achtzehnten Jahrhundert malte: im Vordergrund hoch zu Roß in glänzenden Uniformen säbelschwingende Offiziere, im rauchverschleierten Hintergrund das unkenntliche Fußvolk, das sich gegenseitig niedermetzelte. Unter dem Bild standen zwei weiße Sofas und ein paar dazu passende Sessel.
In einem jener hässlichen hohen Stühle, aus denen auch Leute mit steifen Gliedern noch aufstehen können, saß eine alte Frau in einem einfachen schwarzen Kleid.
»Guten Tag, Mr. Samson«, sagte sie auf englisch, nachdem ihre Tochter uns vorgestellt hatte, und sah sich Gloria genau an, ehe sie ihr zunickte. Lisls Schwester hatte auf den ersten Blick nichts mit Lisl gemein. Sie wirkte sehr zart und zerbrechlich, die Haut wie fleckiges vergilbtes Pergament, das dünne weiße Haar so sorgfältig arrangiert, als sei sie uns zu Ehren noch heute morgen beim Friseur gewesen. Ich betrachtete sie mit Interesse. Sie war sogar noch älter als Lisl, weiß der Himmel, wie alt. Aber diese Frau hatte sich mit dem Alter abgefunden. Sie hatte sich weder die Haare färben lassen noch ihr Gesicht geschminkt oder, wie es Lisl tat, wenn sie Besuch erwartete, falsche Augenwimpern aufgeklebt. Trotz der Unterschiede war jedoch die Familienähnlichkeit unverkennbar. Sie hatte das gleiche eigenwillige Kinn wie ihre Schwester, die gleichen großen Augen und den gleichen Mund, der einen so gewinnend anlächeln wie vernichtend anfauchen konnte.
»Sie sind also ein Freund meiner Schwester?« Die Wörter waren englisch, die Aussprache amerikanisch, aber der Konstruktion der Sätze war anzuhören, dass sie in deutscher Sprache dachte. Ich rückte ein wenig näher, um sie nicht bitten zu müssen, lauter zu sprechen.
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»Ich kenne sie schon seit langem«, sagte ich. »Noch vor ein paar Wochen bin ich bei ihr gewesen.«
»Geht es ihr gut?« Sie blickte zu ihrer Tochter und sagte:
»Bringst du den Tee?« Die jüngere Frau lächelte gehorsam und verließ das Zimmer.
Ich überlegte kurz, wie ich ihr am besten Lisls Gesundheitszustand beschreiben sollte. Ich wollte sie nicht ängstigen. »Sie könnte einen sehr leichten Schlaganfall gehabt haben«, sagte ich vorsichtig. »Sehr leicht. Die Ärzte im Krankenhaus sind sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt einer war.«
»Und deshalb sind Sie hier?« Jetzt fielen mir ihre Augen auf. Katzenaugen. Grün und tief und leuchtend. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals einem Menschen mit solchen Augen begegnet zu sein.
Diese alte Frau war jedenfalls jemand, der nicht lange um den heißen Brei herumredete. »Nein«, sagte ich. »Aber sie wird das Hotel aufgeben müssen. Der Arzt sagt, sie muss sich schonen.«
»Natürlich. Jeder sagt ihr das früher oder später. Sie hat sich schon immer zuviel zugemutet.«
»Das Haus gehörte Ihrem Vater, nicht wahr?« sagte ich.
»Ja. Ich verbinde viele wunderschöne Erinnerungen damit.«
»Es ist ein herrlicher alter Bau«, sagte ich. »Ich wünschte, ich hätte es zur Zeit Ihres Vaters gekannt. Aber die steile Treppe ins Hochparterre ist jetzt für Lisl zu beschwerlich. Sie muss irgendwo hinziehen, wo alle Räume im Erdgeschoss liegen.«
»So. Und wer kümmert sich um sie?«
»Haben Sie je von Werner Volkmann gehört?«
»Dem Juden?«
»Dem Jungen, den Lisl aufgezogen hat.«
»Diese jüdische Familie, die sie im Obergeschoss versteckt hatte. Ja, meine Schwester
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