Gekroent
Birkitas Händen auf und ließ einen klaren, glitzernden, wie farblosen Wackelpudding aussehenden Sirup zurück.
„Nun seid Ihr dran, Hohepriesterin.“
Morrigan zuckte unter Birkitas Worten unwillkürlich zusammen. Sie schaute vom frisch gesegneten Glibber auf und sah, dass alle im Raum sie erwartungsvoll anschauten. Sie öffnete den Mund, um dankend abzulehnen, aber die Worte Umarme dein Schicksal schwebten durch ihren Kopf, und leicht schockiert merkte sie, dass sie den Sirup segnen wollte.
Morrigan wollte Hohepriesterin sein.
Sie ließ sich keine Zeit, um einen Rückzieher zu machen, sondern stellte sich vor den zweiten Eimer. Wie Birkita zuvor hob sie die Arme über den Kopf. Einen Moment lang war ihr Gehirn vollkommen leer, wie damals, als sie das erste Mal vor einem richtigen Publikum die Bühne betreten und allen Text vergessen hatte, aber im nächsten Augenblick erfüllte der Segen ihren Geist. Genau wie bei diesem ersten Theaterstück sprach Morrigan mit klarer Stimme, die bis in die letzte Ecke des Raumes drang.
„Aus der Dunkelheit kommt Licht. Aus dem Stein kommt Flüssigkeit.“ Schnell sprach sie die Zeilen, an die sie sich erinnerte, und hielt dann inne. Sie atmete tief ein und straffte noch einmal ihre nach unten gerichteten Arme. Als sie wieder zu sprechen anfing, rezitierte sie die Worte, die aus ihrem Herzen kamen, anstatt die auswendig gelernten Sätze eines Gebets. „Erhöre mich. Adsagsona. Ich bin Morrigan, deine Lichtbringerin und Hohepriesterin. Ich bitte das Licht, zu mir zu kommen – gleißendes Licht aus der undurchdringlichen Dunkelheit – etwas, das nur gelingen kann, weil die Göttin mir die Macht dazu verliehen hat.“ Morrigan machte eine Pause und fing an, ihre Hände über dem Eimer vor- und zurückzubewegen. Aus der Alabasterflüssigkeit stieg dunkler Nebel auf. Die rauchige Schwärze, die unter ihren Händen verwirbelte, wurde intensiver, und sie spürte es tief in ihrem Inneren. Der Funken kristallinen Lichts war ihr bereits so vertraut wie ein Kindheitsfreund. Als sie ihren Segen mit den Worten schloss: „Bitte leuchte für mich, Göttin“, war die Kraft, die unter ihren Händen entstand, kein leises Zischen. Es war wie ein energetischer Schlag, unter dem selbst sie überrascht zusammenzuckte.
„Gesegnet sei Adsagsona!“, rief Birkita.
„Gesegnet sei Adsagsona!“, wiederholten die Menschen in der Höhle.
Morrigan schaute die beiden arroganten Männer an und sah, dass sie die Einzigen waren, die der Göttin nicht dankten. Stattdessen beobachteten sie sie abwägend.
Ihre Hände kribbelten immer noch vor Energie. Morrigan hob eine Augenbraue und lächelte die beiden Männer selbstgefällig an.
6. KAPITEL
Der Rest des Vormittags verging schnell, aber nicht ereignislos. Morrigan hielt sich an den Rat, den ihr Großvater ihr wieder und wieder gegeben hatte: „Wenn du den Mund hältst und zuhörst, wirst du überrascht sein, was du über die Leute um dich erfahren kannst.“
Nachdem die arroganten Lehrlinge gegangen waren, hatte Morrigan es sich auf einem der fellbedeckten Simse bequem gemacht. Brina hatte sich an ihrer Seite zusammengerollt, und Morrigan trank Milch und gesüßten Tee und hörte zu. Natürlich hatte G-pa recht. Wenn sie nickte und stumm, aber aufmunternd lächelte, vergaßen die Menschen entweder, dass sie überhaupt da war, oder sie kamen nur zu bereitwillig zu ihr und erzählten fröhlich vor sich hin. Auf diese Art erfuhr Morrigan eine Menge Dinge.
Zum Beispiel, dass das Volk Adsagsonas Priesterinnen nicht mehr respektierte –, und zwar seitdem Perth und Shayla die Regentschaft über die Sidetha übernommen hatten. Es war offensichtlich, dass Shayla die wahre Macht in Händen hielt. Die Priesterinnen empfanden eine tiefe Abneigung gegen Shayla, das konnte Morrigan ihnen nicht verdenken. Ihr kurzes Zusammentreffen mit der Frau hatte ausgereicht, dass sie ihnen (wenn auch schweigend) zustimmte. Genauso deutlich wie ihre Abneigung war allerdings auch die Angst der Priesterinnen vor dem Herrscherpaar. Das nicht in Adsagsonas Diensten stehende Volk stand geschlossen hinter Perth und Shayla, auch wenn ihm die beiden ebenfalls nicht sonderlich sympathisch waren. Die Menschen waren außergewöhnlich wohlhabend – teilweise sogar richtiggehend reich, zumindest nach Morrigans Maßstäben. Das hatten sie einzig und allein Perth und Shayla zu verdanken.
Je länger Morrigan zuhörte, desto mehr fiel ihr auf, dass sie mitten in einen Machtkampf
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