Gelassen durch die Trotzphase
recht, wenn ich den Raum verlasse.«
Solche Berichte höre ich sehr oft von jungen Eltern. Aber braucht ein ein- bis zweijähriges Kind denn wirklich ständig die unmittelbare Gegenwart von Mutter oder Vater?
Nicolas’ Mutter berichtete mir, wie sie das Problem »gelöst« hatte: Sie bot ihrem Zweijährigen ständigen Körperkontakt an. Das ging so weit, dass er sich auf ihren Rücken setzte, während sie auf den Knien durch die Wohnung rutschte, um sauberzumachen. Damit tat sie ihrem Sohn auf Dauer nichts Gutes. Nicolas konnte sich nicht altersgerecht entwickeln, weil seine Mutter ihn immer noch wie ein Baby behandelte. Sobald er nicht ihre körperliche Nähe spürte, glaubte er in Gefahr zu sein, er bekam Angst und fing an zu schreien.
Nicolas’ Angst wurde eigentlich durch einen Fehlalarm in seinem Gehirn ausgelöst: In Wirklichkeit war er gar nicht in Gefahr. Seine Mutter war ja bei ihm, ganz in seiner Nähe. Aber sie nahm ihren kleinen Sohn jedes Mal sofort auf den Arm, sobald er anfing zu schreien. So konnte Nicolas nicht die Erfahrung machen, dass seine Mutter auch ohne ständigen Körperkontakt für seinen Schutz und seine Sicherheit sorgte. Er konnte nicht lernen, dass er nicht in Gefahr war, wenn sie sich ein paar Meter entfernt von ihm aufhielt. Nicolas bekam zwar, was er wollte, aber es war nicht das, was er brauchte. Denn schließlich war er mit seinen zwei Jahren kein hilfloses Baby mehr. Letztendlich hinderte ihn seine Mutter selbst daran, den nächsten Entwicklungsschritt zu machen und selbstständiger zu werden.
DIE »INNERE ALARMANLAGE« – WIE DIE ANGST GEREGELT WIRD
Ein Teil des Gehirns erfüllt die Aufgabe einer inneren Alarmanlage. Er liegt mitten im Gehirn, hat die Form einer Mandel und heißt deshalb »Mandelkern«, in der Fachsprache »Amygdala«. Werden dem Gehirn gefährliche Reize gemeldet, schlägt die Amygdala blitzschnell Alarm. Bevor das Kind weiß, was los ist, reagiert sein Körper: Die Stress-Hormone im Blut steigen. Das Kind hört sofort mit dem auf, was es gerade tut. Sein Gehirn wird sehr aktiv. Die Muskelspannung steigt, der Puls schlägt schneller. So fühlt sich Angst an. Das Kind ist bereit zum Hilfeschrei, zum Kampf, zur Flucht oder zum Rückzug. Erst dann dringt der Reiz ins Bewusstsein vor.
Ein anderer Teil des Gehirns, die als Großhirn bezeichneten grauen Zellen, bewertet die Situation und vergleicht sie mit früheren Erfahrungen. Die Bewertung »nicht gefährlich« bedeutet »Entwarnung«. Wird nun Entwarnung gegeben, beruhigt sich die Amygdala, die Angst verschwindet. Bei der Bewertung »gefährlich« bleibt die Angst bestehen.
Bei vielen kleinen Kindern ist die »Alarmanlage« noch zu empfindlich eingestellt. Sie löst Fehlalarm aus bei einem Reiz, der gar nicht gefährlich ist, zum Beispiel wenn die Mutter nur kurz den Raum verlässt. Das Großhirn erkennt den Fehler nicht. Es bestätigt »Gefahr!«, und die Angst wird noch größer. Woher soll ein kleines Kind auch schon wissen, wann seine Angst es vor einer echten Gefahr schützt und wann es sich damit selbst im Weg steht? Sein Großhirn braucht noch viele Erfahrungen, bis es sicher zwischen »gefährlich« und »harmlos« unterscheiden kann.
Andere Bezugspersonen
Viele trennungsängstliche Kinder sind ganz auf eine Bezugsperson fixiert. Einen Babysitter akzeptieren sie nicht. Aber schon der »falsche« Elternteil kann heftige Trotzreaktionen auslösen: Manche Kinder protestieren sogar, wenn Mama den Raum verlässt, obwohl Papa bei ihnen ist – oder umgekehrt. Daraus entwickelt sich recht häufig das »Ich-will-Mama«- oder das »Ich-will-Papa«-Spiel: Das Kind will entscheiden, wer es auszieht, wickelt, füttert oder ins Bett bringt. Wenn der oder die »Falsche« es versucht und der »Richtige« den Raum verlässt, weint und schreit es herzzerreißend. Die meisten Eltern geben dann nach. Trennungsangst wollen sie ihrem Kleinen nicht zumuten. Aber hat das Kind tatsächlich Angst, oder will es mit einer Trotzreaktion einfach seinen Willen durchsetzen?
Die Grenze zwischen »Ich habe Angst« und »Ich will nicht« ist fließend. Was geht in einem zweijährigen Kind vor, das von seinem Papa ins Bett gebracht wird, obwohl es nach der Mama weint? Möglicherweise fühlt es sich in diesem Moment tatsächlich ängstlich und von seiner Mama verlassen. Sein inneres Warnsystem zeigt »Gefahr« an. Aber es handelt sich eindeutig um einen Fehlalarm: Auch der Vater kann schließlich sein Kind beschützen und ihm Liebe
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