Geliebte der Finsternis
Tageslicht würde dir nicht schaden.«
Am liebsten wäre sie zu ihm gegangen, um ihn wieder zu berühren. Sie sehnte sich nach seiner Nähe. Doch sie spürte, er würde sie nicht willkommen heißen.
Er brauchte Zeit. Und Antworten.
»In meiner Kindheit hatte ich Fangzähne«, erklärte Cassandra. Sie durfte ihm nichts verheimlichen, denn es war sein gutes Recht, alles zu erfahren, was das Baby zum Überleben benötigte. »Sobald ich zehn Jahre alt war, ließ mein Vater die spitzen Zähne abschleifen, damit er mich in der menschlichen Welt besser verstecken konnte. So wie alle Angehörigen meines Volkes brauche ich Blutzufuhren. Aber ich bin nicht auf Apollitenblut angewiesen. Und ich muss es auch nicht trinken oder täglich erhalten …«
Beim Gedanken an die Erfordernisse ihres Daseins verstummte sie. Wäre sie doch als Mensch geboren worden. Doch sie musste sich glücklich schätzen, weil sie nicht so viele apollitische Eigenschaften geerbt hatte wie ihre Schwestern. Alle vier hatten sie beneidet, weil sie ein leichteres Leben führte und am helllichten Tag ins Freie gehen konnte.
»In unregelmäßigen Abständen gehe ich zum Doktor und bekomme eine Transfusion«, fuhr sie fort. »Da ein ärztliches Forschungsteam für meinen Vater arbeitet, fälschte er einige Tests, aus denen hervorging, dass ich an einer seltenen Krankheit leide. Deshalb kriege ich, was ich brauche, ohne den Verdacht zu erregen, ich wäre kein normaler Mensch. Nur wenn ich mich schwach fühle, besuche ich meinen Arzt, der die Transfusionen vornimmt.
Und ich altere nicht so schnell wie die meisten Apolliten. Meine Pubertät erreichte ich im gleichen Alter wie die Menschenmädchen.«
»Vielleicht ist unser Kind sogar noch menschlicher.« Der hoffnungsvolle Unterton in Wulfs Stimme war unüberhörbar, und sie teilte seinen Wunsch.
Wie wundervoll wäre es, ein menschliches Baby zu gebären. Und dass er von »unserem« Kind sprach, beglückte sie. Ein gutes Zeichen.
Zumindest für das Baby.
»Also bestreitest du die Vaterschaft nicht?«
Wulf warf ihr einen scharfen Blick zu. »In unseren Träumen war ich mit dir zusammen. Das weiß ich. Und wozu die Götter fähig sind - dafür bin ich ein lebender Beweis. Nein, ich bezweifle nicht, dass du mein Kind in dir trägst, und ich werde ihm ein guter Vater sein.«
»Danke«, wisperte sie. In ihren Augen brannten Tränen. Auf solche Worte hatte sie nicht zu hoffen gewagt.
Sie räusperte sich und schluckte die Tränen hinunter. Natürlich würde sie nicht weinen. Nicht deshalb. Sie konnte von Glück reden. Im Gegensatz zu anderen Apolliten würde ihr Kind in der Obhut eines Vaters heranwachsen.
»Sehen wir’s mal positiv, Wulf. Du musst mich nur ein paar Monate lang ertragen. Danach bist du mich für immer los.«
Er starrte sie so wütend an, dass sie zurückwich. »Nimm den Tod niemals auf die leichte Schulter!«
Da entsann sie sich, was er im Traum über den Tod geliebter Menschen erzählt hatte. »Glaub mir, das tue ich nicht. Ich weiß, das Apollitenleben ist von kurzer Dauer. Aber vielleicht wird unser Baby älter als siebenundzwanzig.«
»Und wenn nicht?«
Seine Hölle würde fortbestehen. Sogar noch schlimmer, denn er würde sein Kind sterben sehen.
Und seine Enkel, seine Urenkel …
Sie alle würden einen viel zu frühen Tod finden.
»Tut mir leid, dass ich dich da hineingezogen habe«, sagte sie leise.
»Mir auch.« Er ging an ihr vorbei zu einer Treppe, die nach unten führte.
»Wenigstens wirst du das Kind kennen, Wulf!«, rief sie ihm nach. »Es wird sich an dich erinnern. Aber mir sind nur ein paar Wochen mit meinem Baby vergönnt, bevor ich sterben muss. Und es wird mich gar nicht kennenlernen.«
Wie festgewurzelt blieb er stehen. Eine volle Minute lang rührte er sich nicht.
Cassandra beobachtete ihn und wartete auf eine Gefühlsregung. Doch sein Gesicht blieb ausdruckslos.
Dann stieg er schweigend die Stufen hinab, und sie versuchte zu vergessen, wie herzlos er sie ignoriert hatte. Nun musste sie sich auf andere Dinge konzentrieren, zum Beispiel auf das winzige Lebewesen unter ihrem Herzen. Sie ging in ihr Zimmer und begann Vorbereitungen zu treffen. Denn die Zeit drohte ihr davonzulaufen.
Wulf betrat sein Zimmer und schloss die Tür. Jetzt musste er erst einmal allein sein und alles überdenken, was er erfahren hatte.
Unglaublich - er blickte Vaterfreuden entgegen.
Und das Kind würde sich an ihn erinnern. Aber wenn es stärkere apollitische Züge aufwies als
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