Geliebte der Nacht
sich durch die kleine Lücke hochhievte. Sie schlüpfte rasch durch die Öffnung und stolperte auf die kiesbedeckte Erde ins Freie.
Nun konnte sie ihren Verfolger nicht mehr hören. Vielleicht hatte sie ihn in den dunklen, mit zahlreichen Biegungen versehenen Korridoren abgeschüttelt. Gott, sie hoffte es.
Gabrielle rappelte sich auf und rannte auf die Ecke der Umzäunung zu, in der sich die Lücke befand. Es dauerte nicht lange, bis sie sie gefunden hatte. Sie ließ sich auf Hände und Knie nieder, zwängte sich unter dem aufgeschnittenen Teil des Drahtes hindurch; ihr Herzschlag hämmerte ihr in den Ohren, Adrenalin schoss durch ihre Adern. In ihrer blinden Panik riss sie sich eine Seite ihres Gesichtes an einer scharfen Kante auf. Ihre Wange brannte, und sie spürte, wie das Blut heiß an ihrem Ohr herunterrann. Aber sie ignorierte diesen Schmerz ebenso wie jenen, den ihr die Kameratasche an ihrer Hüfte verursacht hatte, als sie sich auf dem Bauch durch den Zaun wand und nach draußen in die Freiheit entkam.
Als sie sich durch die kleine Öffnung gezwängt hatte, sprang Gabrielle auf die Füße und überquerte die breite, unebene Rasenfläche des äußeren Geländes in wilder Hast. Sie blickte sich nur kurz um – lange genug, um zu sehen, dass der riesige Wachmann immer noch hinter ihr her war. Er war irgendwo aus dem Erdgeschoss gekommen und kam jetzt mit langen Sätzen hinter ihr her, wie eine Bestie direkt aus der Hölle. Gabrielles Magen krampfte sich zusammen, und sie schluckte panisch, als sie ihn sah. Der Kerl war gebaut wie ein Panzer. Wahrscheinlich wog er deutlich mehr als hundert Kilogramm, er war reine Muskelmasse. Auf dem Rumpf saß ein großer Quadratschädel, und sein Haar war militärisch kurz geschnitten. Der große Mann rannte bis zu dem hohen Zaun und hielt schließlich an, schlug mit der Faust gegen die Maschen, während Gabrielle das schützende dichte Unterholz erreichte, das das Grundstück von der Straße trennte.
Ihr Auto stand genau da, wo sie es abgestellt hatte. Mit zitternden Händen fummelte Gabrielle am Türschloss herum, voller Angst, dass dieser Muskelmann sie noch einholen würde. Auch wenn das beinahe unmöglich war, strömte noch immer Adrenalin durch ihren angsterfüllten Körper. Sie ließ sich auf den Ledersitz des Wagens fallen, stieß den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor. Mit klopfendem Herzen trat sie auf das Gaspedal und bretterte über den Asphalt. Mit quietschenden, durchdrehenden Reifen gelang ihr die Flucht, die Luft erfüllt vom Gestank nach dem verbrannten Gummi der Reifen ihres Autos.
6
Mitten in der Woche auf dem Höhepunkt der sommerlichen Hauptsaison wimmelte es in den Parks und auf den Boulevards von Boston nur so vor Menschen. Nahverkehrszüge brachten in kurzen Abständen Bewohner der Vorstädte in die Stadt, sie strömten zu ihren Arbeitsplätzen, zu den Museen sowie zu den zahllosen anderen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Mit Kameras bewaffnete Leute kletterten in Ausflugsbusse und Kutschen, um die Stadt zu besichtigen; andere stellten sich in Schlangen an, um an überteuerten, überfüllten Touren teilzunehmen, die sie zu Hunderten nach Cape Cod hinaustransportieren würden.
Unter dem bunten, geschäftigen Treiben auf der Straße lag eine andere Welt verborgen. Etwa neunzig Meter unter der Erde, unter einem stark gesicherten großen Haus, beugte sich Lucan Thorne im Hauptquartier der Krieger des Stammes über einen Flachbildschirm und murmelte einen deftigen Fluch. Das Vampir-Identifizierungsprogramm lief mit der Geschwindigkeit von Maschinengewehrsalven über das Display des Monitors, während ein Computerprogramm eine riesige internationale Datenbank nach Gegenstücken der Fotos durchsuchte, die Gabrielle Maxwell gemacht hatte.
„Noch nichts?“, fragte er und warf Gideon, der den Computer bediente, einen ungeduldigen Blick zu.
„Bisher rein gar nichts. Aber mein Suchlauf läuft noch. IID hat ein paar Millionen Unterlagen, die durchsucht werden müssen.“ Die scharfen blauen Augen des Vampirs blitzten über dem Rand einer eleganten silbernen Sonnenbrille auf. „Ich werde deine Scheißkerle schon erwischen, mach dir keine Sorgen.“
„Ich mache mir nie Sorgen“, erwiderte Lucan, und er meinte es wirklich so. Gideon besaß einen außergewöhnlich hohen Intelligenzquotienten, dazu kam verstärkend eine weitere Eigenschaft: eine unglaubliche Hartnäckigkeit. Der Vampir war ein ebenso unnachgiebiger Bluthund wie ein
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