Geliebte der Nacht
gleichgültig, wer der Mensch war. In ein paar Minuten würde er sowieso Geschichte sein.
„Gabrielle, du musst hier weg, Süße.“
„W-was? Und dich mit ihm allein lassen? Lucan, er hat eine Waffe.“
„Geh jetzt, Liebling. Sieh zu, dass du schnell nach Hause kommst. Ich werde mich darum kümmern, dass du dort in Sicherheit bist.“
Der Lakai krümmte sich am Boden, umklammerte die Handfeuerwaffe, hustete und rang nach Atem, den Lucan ihm mit seinem Tritt aus den Lungen getrieben hatte. Er spuckte Blut, und Lucans Augen wurden schmal beim Anblick der karmesinroten Spritzer, die in der Erde versickerten. Sein Zahnfleisch drückte, als seine Fangzähne länger wurden.
„Lucan –“
„Verdammt noch mal, Gabrielle, verschwinde!“
Der Befehl drang ihm in einem wilden Knurren über die Lippen. Er konnte die Bestie in seinem Inneren kaum noch bändigen. Gleich würde er wieder töten – seine Wut war so unkontrollierbar mächtig, dass er es einfach musste – und er wollte nicht, dass sie dabei zusah.
„Lauf, Gabrielle. Los!“
Sie lief los.
Gabrielle, in deren Kopf sich alles drehte und deren Herz sich anfühlte, als müsste es zerspringen, lief davon, als Lucan seinen Befehl brüllte.
Aber sie würde nicht nach Hause laufen, wie er befohlen hatte, und ihn allein lassen. Sie flüchtete von dem Spielplatz und hoffte, die Straße und die Wache voller bewaffneter Polizisten schnell genug zu erreichen. Ein Teil von ihr weigerte sich, Lucan überhaupt zu verlassen, aber ein anderer Teil von ihr – ein Teil, der unbedingt alles tun wollte, um ihm irgendwie zu helfen – ließ ihre Beine förmlich fliegen.
Ganz gleich, wie wütend sie über seinen Betrug war, und sosehr sie sich auch vor allem fürchtete, was sie an ihm nicht verstand –, sie musste sicherstellen, dass ihm nichts geschah.
Wenn ihm etwas zustieße –
Der Gedanke riss ab, als in der Dunkelheit hinter ihr Schüsse krachten.
Sie erstarrte. Ihr Atem entwich ihren Lungen.
Sie hörte ein seltsames, raubtierhaftes Aufbrühen.
Noch zwei Schüsse schnell hintereinander, dann … nichts mehr.
Nur anhaltende, lastende Stille.
O Gott.
„Lucan?“, schrie sie. Panik schnürte ihr die Kehle zu. „Lucan!“
Wieder rannte sie. Nicht in Richtung Straße, sondern dahin zurück, von wo sie gekommen war. Wo, wie sie fürchtete, ihr Herz in eine Million Stücke zerbrechen würde, wenn Lucan dort nicht unverletzt stand.
Mit verschwommener Besorgnis dachte sie daran, dass der junge Mann aus der Polizeiwache – Lakai, so hatte ihn Lucan seltsamerweise bezeichnet – ihr womöglich auflauerte oder vielleicht schon nachsetzte, um sie ebenfalls zu erledigen. Aber sie schob die Sorge um ihre eigene Sicherheit beiseite, als sie sich dem kleinen Fleck des vom Mondlicht erleuchteten Spielplatzes näherte.
Sie musste sicherstellen, dass es Lucan gut ging.
Wichtiger als alles andere war jetzt, dass sie bei ihm war.
Sie erblickte die Silhouette einer dunklen Gestalt auf dem grasbewachsenen Platz – Lucan. Breitbeinig stand er da, die Arme drohend ausgestreckt. Vor ihm hockte der Angreifer auf dem Hintern und versuchte aus Lucans Reichweite zu krabbeln.
„Gott sei Dank“, flüsterte Gabrielle erleichtert.
Lucan war unversehrt, nun sollten sich die Behörden um den gefährlichen Irren kümmern, der sie beide hätte töten können.
Sie ging ein Stück näher heran.
„Lucan“, rief sie, aber er schien sie nicht zu hören.
Er starrte auf den Mann zu seinen Füßen herab, dann beugte er sich vor. Gabrielles Ohren vernahmen einen merkwürdig erstickt klingenden Laut, und sie erkannte schockiert, dass Lucan den Mann an der Kehle gepackt hielt.
Er hob ihn mit einer Hand in die Höhe.
Ihre Schritte wurden langsamer, als ihr Verstand darum kämpfte, sich einen Reim auf das zu machen, was sie vor sich sah.
Lucan war stark, daran bestand kein Zweifel, und der Typ von der Wache wog wahrscheinlich höchstens zwanzig Kilo mehr als sie, aber ihn mit einer Hand hochzuheben … das war nahezu undenkbar.
Seltsam distanziert schaute sie zu, wie Lucan sein Opfer höher hob. Der junge Mann wand sich und wehrte sich vergeblich gegen den Klammergriff, der ihm allmählich die Luft abschnitt. Ein grauenhafter Heulton drang an ihre Ohren und steigerte sich langsam, bis er alles andere übertönte.
Im Mondlicht sah sie Lucans Mund. Er stand offen, die Zähne waren gefletscht. Der Mund, aus dem dieses grässliche, unwirkliche Geräusch kam.
„Hör auf“, stammelte
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