Geliebte des Blitzes
REMY BEI ACRO ANGEFANGEN HATTE, glaubte er, nun würde er die Macht hinter seinem Talent endlich verstehen. Er war erleichtert gewesen, weil es so viele Methoden gab, die ihm helfen konnten, wenn ein Sturm tobte und Flammen in seinem Blut entfachte.
Aber so etwas hatte er noch nie erlebt, und er flehte den Allmächtigen an, er möge ihn nie wieder auf eine so harte Probe stellen. Falls er diese Nacht überstand.
Vierundzwanzig Stunden lang hatte er wie auf glühenden Kohlen verbracht, allein mit Adrenalin, brutaler Stärke und schierer Willenskraft überlebt.
Und jetzt lebte er für Haley und das Baby. Deshalb fand er die gemeinsame Zeit kostbarer denn je.
Er hatte sich gezwungen, eines der Fertiggerichte zu essen, die sie ins Hotel mitgebracht hatten, obwohl er nichts schmecken konnte außer Ozon und Elektrizität. Als hätten sich diese beiden Gäste dauerhaft in seinem Körper eingenistet – und als wollten sie nie mehr verschwinden. Dabei hätte er schwören können, dass diesmal Mutter Natur auf seiner Seite war – genau wie er selbst verwirrt von dem von Menschenhand erzeugten
Wettersystem, das sie mit vereinten Kräften bekämpfen mussten.
Manchmal hörte er ihre Stimme im Heulen des Windes, als würde sie ihn um Hilfe bitten und den Zorn nicht verstehen, der ringsum tobte, in rasender Verzweiflung und außer Kontrolle.
»Bist du bereit?«
Er blickte vom Bett auf, wo er lag, und sah Haley neben sich stehen. Während der letzten Stunde hatte sie vor ihren Geräten aus dem Wetterlabor gesessen und unverständliche Worte gemurmelt, wie die schönste verrückte Wissenschaftlerin, die ihm jemals begegnet war. Er hatte sie nicht gestört. Was immer sie trieb, es entlockte ihr immer wieder ein Lächeln, und wenn jemand angesichts dieser Katastrophe lächeln konnte, dann nur seine Haley.
Natürlich würde er sie nicht entmutigen, mochte er sich auch noch so beschissen fühlen. Er legte eine Hand auf ihren noch flachen Bauch. »Ja, ich bin bereit. Seid ihr beide auch so weit?«
»Es ist an der Zeit, das festzustellen.«
Remy stand auf. »Sag mir, was ich tun soll.«
»Inzwischen ist der Zentrumswall zusammengebrochen, die Intensität des Sturms ist auf Kategorie drei gesunken. «
»Trotzdem ist Lily immer noch ein ganz schönes Monster voller zerstörerischer Kraft.«
»Für ihre Verhältnisse aber gerade ziemlich schwach.« Haley streichelte sein Haar. Einen Moment lang presste sie ihr Gesicht an seine Brust, bevor sie hinzufügte. »Du musst den Zentrumswall noch weiter auseinanderzerren und verhindern, dass sie ihn wieder aufbaut.«
»Und wenn ich das geschafft habe?«
»Schick einen Wind in ihre Spitze, und ein starker Weststurm wird sie auseinanderreißen.«
»Okay.« Remy nickte. »Gib mir ein paar Minuten allein da draußen. Wenn ich dich brauche, rufe ich nach dir.«
»Dass du mir das auch ja tust.«
Beim Anblick des Regens, der diagonal gegen die Glastür prasselte, zuckte er zusammen. In diesem Moment tobten Winde von der Kategorie zwei, die das Zentrum des Hurrikans etwa fünfzig Meilen weiter draußen auf dem Meer festhielten. Widerstrebend ließ er Haley los und verzichtete auf die Ermahnung, sie müsste sich von den Fenstern fernhalten.
Sobald er die Tür öffnete, schlug ihm kalter Regen ins Gesicht. Innerhalb weniger Sekunden war er triefnass, und der Wind erschwerte ihm das Atmen. Beinahe verlor er sein Gleichgewicht. Mit einer Hand hielt er sich am eisernen Balkongeländer fest, dem Himmel möglichst nahe, ohne dass er Gefahr lief hinabzustürzen.
Obwohl Lily als künstlich erzeugter Hurrikan zu toben begonnen hatte, bestand sie jetzt aus reiner Natur. Auch aus einem Großteil seiner eigenen Natur – und plötzlich wurde er von der Intensität des Sturms eingehüllt, schaute ihm mit einer Klarheit ins Auge, wie er sie nie zuvor erreicht hatte. Eines Tages würde ihm das gelingen, hatte Haley ihm versichert.
Stürme tun einfach nur ihre Arbeit – und kein Mensch ist glücklich, wenn er ihnen begegnet. Stell sie dir als kleine Kinder vor, die Wutanfälle bekommen, und konzentrier dich darauf, sie aufzumuntern.
»Alles okay, Lily!«, rief er in den schwarzen Himmel hinauf. »Bald wird alles gut, du brauchst einfach nur ein neues Zuhause, in dem du dich wohlfühlst.«
Nachdem er seinen Entschluss gefasst hatte, sammelte er seine Kräfte, spürte das viel zu vertraute Prickeln im ganzen Körper, vom Scheitel bis zur Sohle. Und als er die Elektrizität wahrnahm, die in der Luft
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