Geliebte des Feuers
nur nicht, wie. Es gibt doch nur eine Tür.«
»Es gibt noch eine«, widersprach Dean und nahm eine Waffe mit Knöchelhalfter von der Wand. »Sie befindet sich hinter dir, in die Wand eingelassen.«
Miri sah sich um. Und - ja sicher, jetzt erkannte sie Furchen in dem Metall. Sehr gute Arbeit. Die ihr aber überhaupt nicht gefiel. Dean legte die Waffen weg und deutete auf Miris Handtasche.
»Das Artefakt«, sagte er. »Ich möchte es noch einmal ausprobieren.«
»Beim ersten Mal hat es dich doch völlig außer Gefecht gesetzt.«
»Wir haben keine Wahl. Ich bin jetzt vorsichtiger.«
»Was hast du eigentlich gesehen?«, erkundigte sich Koni. »Was hat dir bloß so furchtbar zugesetzt?«
Dean antwortete nicht. Miri hielt den roten Jadestein in ihren Händen, fuhr mit den Fingern über die Kerben, die Worte im Stein, während sich Dean auf den Boden setzte. Sie erwartete immer noch, dass gleich jemand durch die Wand brechen würde, aber die Männer schienen sich keine Sorgen zu machen. Ob sie sie einfach nur beruhigen wollten? Miri gab Dean die Jade. Er zögerte einen Moment, holte tief Luft und schloss die Augen. Sie beobachtete sein Gesicht. Er hatte schon im Wagen versucht, Owens Statuette zu lesen, aber die Innenraumbeleuchtung war so schwach gewesen, dass sie sein Gesicht nicht richtig hatte erkennen können. Und sie wollte sehen, ob sich im Lauf der Jahre etwas verändert hatte, ob er neue Fähigkeiten entwickelt hatte und seine Macht wirksamer kontrollieren konnte. Damals hatten sie bloß vorsichtig herumexperimentiert und ihre Versuche nur sehr langsam ausgedehnt. Aber jetzt war er älter: zwanzig Jahre - eine lange Zeit.
Eine Furche bildete sich zwischen seinen Augen. Das war noch genauso wie früher, wie auch die Bewegungen der Augäpfel unter seinen Lidern, die zuckten, als würde er träumen. Alles andere jedoch wirkte anders. Dean schien jetzt ruhig und entspannt; ihm traten nicht mehr die Sehnen am Hals hervor, und er atmete auch gar nicht schneller. Außerdem machte er keine ruckartigen Bewegungen mit dem Kopf; er bewegte sich eigentlich überhaupt nicht.
Fast hätte sie gelächelt, als sie ihn so beobachtete. Sie wollte ihn berühren, seine Hand nehmen, Dinge sagen wie: Ich bin stolz auf dich. Du hättest nie gedacht, dass du es schaffst, hast dich eine Missgeburt geschimpft, und jetzt sieh dich mal an, sieh einfach, was du machst! Ist das nicht wundervoll?
Es war wundervoll, wundervoll und merkwürdig. Und furchteinflößend. Was nicht hieß, dass Dean oder sein Freund Koni ihr Angst machte. Aber dafür alles andere. Es existierte eine gänzlich andere Welt parallel zu der, in der sie sich befand. Und jetzt, nachdem ihr die Augen geöffnet worden waren, jetzt, da sie sehen konnte, erschien nichts mehr so wie früher. Die Welt, die sie jetzt sah, war voller gefährlicher Geheimnisse, voller Wesen, die keine Menschen waren, die mit einem Lächeln auf den Lippen, mit magischen Fähigkeiten und einer Waffe in der Hand auf die Jagd gingen.
Dean schnappte nach Luft. Miri berührte ihn nicht, sondern beugte sich nur vor. Einen Moment lang durchlebte sie ein sonderbares Déjà-vu, etwas, das sie schon als Kind und Teenager verfolgt hatte, und zwar immer in seiner Gegenwart. Jetzt fühlte sie erneut, wie eine überwältigende Dunkelheit sie umgab, erinnerte sich zugleich an diese Dunkelheit, an Fragmente von Bildern, an einen Raum, Stimmen, die Stimme ihrer Großmutter und noch eine andere, dann Hitze, den Geruch von verbranntem Fleisch ...
Dean öffnete die Augen. Er hielt den Jadestein so fest, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten. Er starrte Miri an, aber sein Blick schien durch sie hindurchzugehen. Miri sagte seinen Namen. Sie berührte ihn, und er zuckte zusammen. Aber sein Blick veränderte sich nicht.
»Wir müssen Taiwan verlassen.« Seine Stimme klang unheimlich, hoch und klar, als spräche er in Trance. »Wir müssen sofort gehen.«
»Warum? Was hast du gesehen?«
»Einen Mann und eine Frau, umringt von Gestalten, die sie festhielten, ihnen jeweils die Brust öffneten und Jadesteine hineinlegten.« Ein leichtes Zittern überlief Dean, und er presste die Kiefer zusammen. Dann sah er sie an, sah sie richtig an. »Hier, bitte«, sagte er. Miri nahm ihm das Artefakt aus der Hand. Die Jade fühlte sich warm an, und sie rieb mit der Handfläche darüber.
»Ich hätte nicht so viel sehen dürfen«, erklärte Dean leise. »Ich weiß nicht, warum die Erinnerungen in diesem Stein noch
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