Geliebte des Feuers
Shen schüttelte den Kopf. »Nimm mich an seiner statt. Lass meinen Vater frei, und nimm mich.«
Die Kreatur glitt über den glatten Steinboden auf Bai Shen zu. Miri wollte sich aufsetzen, doch ihr Körper verweigerte ihr den Dienst. Sie hörte ein rasselndes Geräusch und begriff nach einer Weile, dass es von dem Drachen herrührte. Es war ein Gurren, vielleicht auch ein Lachen.
»Was für ein dummer Junge. So unglaublich dumm! Von Lysander Drakuls Sohn hätte ich mehr erwartet.«
»Und ich hätte meinen Vater für stärker gehalten als eine formlose, gesichtslose, wankelmütige Kreatur!«, stieß Bai Shen grimmig hervor. »Wie schade, dass Lysander Drakul zu schwach war, um seine Seele zu beschützen, und so armselig, dass er dich eingeladen hat.«
Miri hätte Bai Shen gern geraten, seine Wut zu zügeln. Denn es war offenkundig, wie sehr dieses Ding in Lysander sie genoss. Es sei denn, Lysander wäre doch ein wenig mehr Herr seiner Handlungen, als es schien. Was ihn zu einem wirklich schlechten Wesen machen würde.
»Ja, sehr«, flüsterte der Drache, als er seinen gewaltigen Schädel herumschwang und sie anblickte. Miri erwiderte den Blick dieser goldenen Augen, betrachtete die schwarzen Flecken darin, die unbehagliche Erinnerungen in ihr auslösten. Sie bekämpfte sie, unterdrückte diese Gedanken und fing stattdessen an, Multiplikationstabellen im Geist zu berechnen, konzentrierte sich auf trockene Fakten. Lysander fletschte die Zähne.
»Deine Aufgabe hier ist erledigt, Bai Shen. Du darfst gehen.«
Bai Shen rührte sich nicht, sondern sah Miri an. Sie erkannte immer noch die Furcht in seiner Miene, aber sie sah auch Schuldgefühle und eine tiefe, rasende Trauer, die, wie sie vermutete, weniger mit ihr zu tun hatte als vielmehr damit, dass er einen Plan umgesetzt hatte, der sich im Nachhinein als größtmögliche Dummheit herausgestellt hatte. Vor allem für einen Mann, der sich ziemlich nachdrücklich dafür eingesetzt hatte, ein Objekt zu beschützen, das er jetzt so leichtfertig herausgab.
Vielleicht glaubt er ja auch gar nicht wirklich an die Macht des Jadesteins, dachte sie. Vielleicht war es nur eine List, uns zu bitten, seinem Vater zu helfen. Vielleicht wollte er uns nur einschätzen.
Lysander richtete sich auf. »Ich sagte: Geh! Sofort!«
»Ich glaube nicht, dass du mir etwas tun wirst«, erwiderte Bai Shen. »Mein Vater würde das niemals zulassen.«
»Wirklich nicht?«, fragte der ältere Drache, und in diesem Augenblick begriff Miri, dass es vorbei war. Sie konnte sich nur noch auf ihren Instinkt verlassen, aber sie war so erzogen worden, dass sie ihm traute, und jetzt war sie sich sicher. Bai Shen würde diese Begegnung nicht unbeschadet überstehen. Falls er sie überhaupt überlebte.
Vielleicht hatte er ihre Gedanken gehört. Jedenfalls blickte der jüngere Gestaltwandler zu ihr herüber. Miri schüttelte den Kopf und sagte lautlos: Lauf weg!
Doch es war bereits zu spät. Lysander griff an. Er bewegte sich unglaublich schnell: wie ein Blitz. Er schlug mit der Klaue nach Bai Shens Kopf, mit einem so gewaltigen Hieb, dass er ihn hätte abreißen können. Doch im letzten Moment änderte er die Richtung, und Bai Shen schrie auf. Miri hörte ein fürchterliches Reißen, und im nächsten Augenblick war Bai Shens weißhäutiges Gesicht blutüberströmt. Der junge Mann krümmte sich und presste die Hände auf eine Seite seines Kopfes. Er würgte.
Lysander drehte sich zu Miri herum. Er hielt ein Ohr und ein Stück Kopfhaut in seiner Klaue. Langes weißes, teilweise rotgefärbtes Haar hing herunter. Miri atmete durch den Mund, langsam und gleichmäßig, während sie das Gefühl hatte, als müsste ihr Herz jeden Moment explodieren.
Und doch glaubte sie ganz kurz in Lysanders schwarz gefleckten Augen einen Ausdruck wahrzunehmen, der so ungeheuer schmerzlich und traurig war, dass sie ihre Furcht vergaß. Sie beugte sich vor und sagte lautlos: Ich sehe dich in ihm.
Aber der Moment verstrich so schnell und restlos, dass sie sich fragte, ob sie ihn sich nur eingebildet hatte. Lysander lächelte, ein schreckliches, boshaftes Lächeln, das seine spitzen Zähne zeigte, und steckte das Ohr in seinen Mund. Er biss einmal zu, zog die Kopfhaut an den Haaren davon ab und ließ sie wie Abfall zu Boden fallen. Dann kaute er, laut und schmatzend. Bai Shen schluchzte, krampfhaft und heiser. Seine goldenen, weit aufgerissenen Augen verrieten Entsetzen und Leid, eine Trauer, die Miri vergessen ließ, was sie
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