Geliebte des Schattens - Kenyon, S: Geliebte des Schattens - Seize the Night (Dark Hunter 07)
doch seine stocksteife, förmliche Körperhaltung hielt sie davon ab.
Dies und die zahllosen Narben, die die Vermutung nahelegten, dass jemand wieder und wieder auf ihn eingeschlagen hatte.
Aber wer würde so etwas wagen?
»Alles in Ordnung?«, fragte sie, als er zur Kommode trat und das Handy hinlegte.
Er fuhr sich mit der Hand durch sein langes Haar und seufzte. »Wie viele Stunden sind es noch bis Sonnenuntergang?«
»Etwas mehr als fünf.« Sie spürte, dass er noch immer
wütend und durcheinander war. »Möchten Sie sich wieder hinlegen und weiterschlafen?«
Er warf ihr einen harten, drohenden Blick zu. »Ich will nach Hause.«
»Tja, wäre Otto ans Telefon gegangen, hätte ich Sie ja gern zu ihm gebracht.«
»Ich habe ihm freigegeben«, sagte Valerius, ehe er mit einem Mal kreidebleich wurde.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Ich muss auf der Stelle nach Hause.«
»Wenn Sie nicht gerade mit Apollo auf Du und Du sind, ist das so unmöglich wie für mich ein Sechser im Lotto, der immerhin realisierbar wäre, wenn Ash mir endlich mal diese verdammten Zahlen verraten würde. Aber aus diesem elenden Hurensohn bekommt man ja nichts heraus!«
Sie spürte eine Woge verzweifelter Hoffnungslosigkeit in Valerius aufsteigen, trat unwillkürlich vor ihn und berührte behutsam seinen Oberarm. »Es ist alles okay. Ehrlich. Ich bringe Sie zurück, sobald die Sonne untergegangen ist.«
Valerius blickte auf ihre Hand auf seinem Bizeps hinab. Seit Jahrhunderten hatte ihn keine Frau mehr angefasst. Es war keine sexuelle Berührung, stattdessen hatte sie vielmehr etwas Beruhigendes an sich. Es war die Hand von jemandem, der Trost spenden wollte.
Er sah ihr ins Gesicht. Sie hatte leuchtend blaue Augen, aus denen ein wacher Geist und große Intelligenz sprachen. Und, was das Allerwichtigste war, Freundlichkeit - etwas, woran Valerian ebenfalls nicht gewöhnt war.
Die meisten Leute hegten eine instinktive Abneigung
gegen ihn, sobald sie ihn sahen. Zu Lebzeiten hatte er diesen Umstand auf seinen Status als Adliger und den Ruf seiner Familie zurückgeführt, die als ausnehmend brutal galt.
In seiner Funktion als Dark Hunter erwuchs diese Ablehnung aus der Tatsache, dass er Römer war. Da Römer und Griechen einander über Jahrhunderte bekriegt hatten, bis die Römer die Griechen schließlich in die Knie gezwungen hatten, war es nur normal, dass die Griechen ihn aus tiefster Seele hassten. Leider galt das Wort der Griechen und der Amazonen eine Menge, sodass es ihnen gelungen war, all die anderen Dark Hunter und Squires gegen ihre als Römer geborenen Mitstreiter aufzubringen.
Im Lauf der Jahrhunderte hatte Valerius sich eingeredet, dass er keine Verbündeten brauchte, und sogar eine morbide Freude daran entwickelt, sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit an seinen adligen Status zu erinnern.
Vom ersten Tag seiner Wiedergeburt an hatte er gelernt loszuschlagen, bevor sie es tun konnten.
Letzten Endes hatte er sich genau jene steife Förmlichkeit und Korrektheit angewöhnt, die ihm sein Vater als Junge gewaltsam eingetrichtert hatte.
Das Problem war nur, dass diese Förmlichkeit sich so gar nicht mit der gut gemeinten, sanften Berührung einer Frau vertrug.
Tabitha spürte, dass irgendetwas zwischen ihnen vor sich ging. Sein düsterer, eindringlicher Blick bohrte sich durch sie, und zum ersten Mal lag keine Verächtlichkeit oder Herablassung darin. Stattdessen erkannte sie beinahe so etwas wie Sanftmut - etwas, das sie von
einem Mann von Valerius’ Ruf ganz gewiss nicht erwartet hätte.
Er berührte die Narbe auf ihrer Wange. Normalerweise erschien bei ihrem Anblick ein höhnisches Grinsen auf den Gesichtern der Männer, doch Valerius blieb ernst und fuhr stattdessen nur behutsam die Umrisse nach. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Ein Autounfall«, hätte sie um ein Haar gesagt. Sie hatte diese Lüge so oft ausgesprochen, dass sie beinahe automatisch über ihre Lippen kam. Offen gestanden war es einfacher, eine Lüge zu erzählen, als mit der Wahrheit zu leben.
Sie wusste, wie abstoßend ihr Gesicht aussah. Ihre Familie ahnte nicht, wie oft sie ihre heimlichen Bemerkungen darüber mitgehört hatte. Wie oft Kyrian zu Amanda gesagt hatte, er würde ihr mit Freuden eine Behandlung beim Schönheitschirurgen spendieren.
Aber seit ihre Tante bei einer harmlosen Mandeloperation gestorben war, hatte Tabitha entsetzliche Angst vor Krankenhäusern und würde sich niemals freiwillig unters Messer legen, nur weil sie nicht
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