Geliebte des Schattens - Kenyon, S: Geliebte des Schattens - Seize the Night (Dark Hunter 07)
wie ich ihnen ein Gratisessen zukommen lassen. Man kann die Welt nicht retten. Soll sich doch jemand anderes um sie kümmern und so weiter und so weiter. Aber ich kann das nicht. Ich komme jede Nacht her, und ich weiß, dass sie leiden. Einer von ihnen, Martin, war früher einmal ein einflussreicher Geschäftsinhaber, der verklagt wurde und alles verloren hat. Seine Frau hat sich von ihm scheiden lassen und die Kinder mitgenommen. Da er keinen Highschool-Abschluss hatte und schon sechsundfünfzig war, als er Konkurs anmelden musste, wollte ihn natürlich niemand mehr. Eine Zeit lang hat er in meinem Laden gearbeitet, aber es hat nicht zum Leben gereicht, und er wollte keine Almosen, deshalb hat er seine Wohnung aufgegeben und auf der Straße geschlafen. Ich wollte ihm so gern eine Lohnerhöhung geben, aber wenn ich das getan hätte, müsste ich dasselbe bei allen anderen tun, und ich kann es mir nun mal nicht leisten, jeder Teilzeitkraft dreißigtausend Dollar im Jahr zu bezahlen.«
»Ich hatte nicht vor, dir deswegen Vorwürfe zu machen, Tabitha«, erklärte er leise, »sondern wollte nur sagen, wie sehr mich dein Mitgefühl mit anderen Menschen überwältigt.«
»Oh.« Der Anflug eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht. »Ich bin eben daran gewöhnt, dass andere Leute verurteilen, was ich hier tue.«
Er hob ihre Hand an seine Lippen und küsste ihre Fingerknöchel. »Ich verurteile dich nicht, Tabitha, sondern bewundere dich.«
Ihr Lächeln wurde eine Spur breiter und zog ihm den Boden unter den Füßen weg. Sie drückte seine Hand, ehe sie etwas tat, womit er nicht gerechnet hatte - sie schlang ihm den Arm um die Taille und schlug den Weg zurück auf die Straße ein.
Valerius fühlte sich höchst merkwürdig. Jahrhundertelang hatte er Paare so durch die Straßen gehen sehen, doch noch nie war er selbst in den Genuss gekommen. Zögernd legte er ihr den Arm um die Schultern und genoss die Wärme ihrer Gegenwart, die ihn durchströmte.
Es gab keine Worte, die sein Gefühl umschreiben könnten. Was sie taten, war nichts Außergewöhnliches. Eigentlich sollten die Menschen ihre Zuneigung nicht öffentlich zur Schau stellen, und doch hatte er niemals ein so schönes Gefühl erlebt wie mit dieser ungewöhnlichen Frau an seiner Seite.
Die Brise wehte eine ihrer weichen, hellen Haarsträhnen über seine Hand. Sie beschwor Bilder herauf, die er nicht vor Augen haben sollte - von Tabitha, wild und ungezügelt in seinem Bett.
Sie brachten ihn und seinen Körper völlig durcheinander.
Schweigend gingen sie durch die dunkle Stadt, deren Menschen ihren alltäglichen Tätigkeiten nachgingen, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, die überall lauerte. Es herrschte eine geradezu unheimliche Friedlichkeit.
Kurz nach Mitternacht gelangten sie zur Toulouse Street. Das Abyss war kein typischer Klub, wie man ihn in New Orleans an jeder Ecke fand. Stattdessen war es dunkel und keineswegs so einladend wie die Touristenschuppen, die die großen Massen anzogen.
Tabitha führte ihn durch ein steiles, enges Treppenhaus nach unten, das sich ein wenig unheimlich anfühlte.
»Hey, Tabby«, begrüßte sie ein großer, schlanker Schwarzer, der die Ausweise der Gäste vor ihnen kontrollierte. Er war kahlköpfig, und jeder Zentimeter sichtbarer Haut war von Tattoos bedeckt, selbst seine Hände.
»Hi, Ty«, erwiderte Tabitha. »Wie läuft’s heute Abend?«
»Nicht übel«, meinte er zwinkernd und winkte das Pärchen vor ihnen durch. »Wer ist denn dein Freund?«, fragte er und musterte Valerius stirnrunzelnd.
»Val. Er ist auch ein Freund von Ash und Simi.«
»Kein Scheiß?«, fragte Ty, ehe er Val die Hand reichte. »Ty Gagne. Freut mich.«
Valerius ergriff sie. »Mich auch.«
»Amüsiert euch, ihr zwei - und Tabby, keine Waffen, ja?«
»Klar, Ty. Kein Blutvergießen. Hab verstanden.«
Sie betraten den Klub. Entsetzt ließ Valerius den Blick über die schwarz gekleidete Menge schweifen. Es sah aus, als wären sie mitten in einem Dark Hunter-Kongress gelandet, die Touristen, die sich in den Klub verirrt hatten, waren auf den ersten Blick auszumachen. In diesem Raum waren mehr Piercings und Tattoos, als er in seinen gesamten zweitausend Lebensjahren gesehen hatte.
Viele Stammgäste kannten Tabitha.
»Hi, Vlad«, begrüßte Tabitha einen großen, hageren Mann mit so bleicher Haut, dass sie beinahe durchscheinend wirkte. Er trug ein weißes Rüschenhemd unter einer roten Smokingjacke aus Samt und schwarze Hosen. Sein langes
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