Geliebte Diebin
die Rune. »Beschütze sie. Und das Kind. Lass niemandem ein Leid geschehen.«
Sie ließ den Dolch fallen und starrte in das klägliche Feuer. Schwarzer Rauch kräuselte sich durch das Loch im Dach, und plötzlich hatte sie eine weitere Vision, dunkler als die meisten anderen, eine Vision, die sie nicht wegwischen konnte. Eine Vision, die ihr die Tränen in die Augen trieb.
Bereits jetzt war Blut für Serennog geflossen und es würde in nächster Zeit noch mehr Blut fließen. »Nein«, flüsterte sie und zog den geflickten Umhang fester um ihre Schultern. In den jäh aufzüngelnden Flammen sah sie den Tod, der ihr diejenigen nehmen würde, die sie liebte.
Das Zimmer des Eremiten war ein karger Raum mit einem Lager und Wolldecken. Frische Luft drang in die winzige Zelle durch einen Schlitz in der Wand, der nur wenig größer war als ein Pfeil. Der Wachmann reichte ihr ein Gefäß mit Trinkwasser und einen leeren Eimer, in den sie sich entleeren konnte. Als er die Tür hinter sich schloss, blieb Apryll in völliger Dunkelheit zurück.
Sie trat wütend nach dem Lager und setzte sich dann stöhnend darauf. Sie stützte die Ellbogen auf die Knie, legte das K inn in die Handflächen und dachte über ihre Flucht nach. W ie sollte sie die bewerkstelligen? Sollte sie den Wachmann rufen und ihn mit dem Dolch erstechen, den sie in ihrer Tasche verbarg? Sollte sie diesen brutalen Kerl überwältigen und ihn in dieser Zelle einsperren, wenn er ihr etwas zu essen brachte? Ach, es war hoffnungslos. Sie tastete nach den Wänden und hoffte, eine Öffnung zu finden, die sie im Licht der Fackel möglicherweise übersehen hatte, als der Mann sie hierher gebracht hatte. Doch sie fühlte nichts als Steine und Mörtel.
Das Luftloch war zu klein. Selbst wenn sie sich hätte hindurchzwängen können, so befände sie sich doch mehrere Meter über dem Boden. Nein, sie würde ihren Verstand benutzen müssen ... Sie lief in dem kleinen Raum auf und ab und dachte an Paytons Betrug. Verflucht sei sein Wunsch nach Rache. Verflucht sei sein Ehrgeiz, und verflucht, verflucht und doppelt verflucht seine lügnerische Zunge. Warum hatte er sich ihr nicht anvertraut? Warum hatte er ihr nicht gehorcht und hatte den Jungen gegen ihren Willen entführt? Was genau führte er überhaupt im Schilde?
Die Fragen wirbelten in ihrem Kopf herum. Doch es waren nur wenige Minuten vergangen, bis sie Schritte auf der Treppe hörte, schnelle, leichte Schritte.
Ein Schlüssel knarrte im Schloss.
Apryll stand nur da und umklammerte den Griff ihres Dolches.
In der Dunkelheit öffnete sich langsam die Tür.
»Lady Apryll?«, flüsterte eine Stimme.
»Aye. Wer seid Ihr?«
»Ich bin Eure Rettung«, kam die raue Antwort.
Ein Mann? Eine Frau? Sie wusste es nicht. Alt? Jung? Vor dem rauen Flüstern konnte sie es nicht erkennen. »Je weniger Ihr wisst, desto weniger besteht Gefahr. Und jetzt beeilt Euch. Wir haben nicht viel Zeit. Vor dem Tor wartet ein Pferd auf Euch. Folgt mir.«
Die Gestalt, die in einen schweren Umhang gekleidet war, mit einer Kapuze über dem Kopf, die ihr Gesicht verdeckte, schloss die Tür hinter ihnen ab. Dann griff sie nach einer beinahe erloschenen Fackel in einer Halterung an der Wand und führte Apryll eilends die Wendeltreppe nach unten hinunter, hinaus aus dem Turm, wo der Geruch nach Rauch und nasser Asche nach wie vor in der frischen Luft lag. Apryll konnte die Wendung in ihrem Schicksal kaum glauben. Führte dieser Fremde sie in die Freiheit oder in den sicheren Tod? War ihr Begleiter ein Freund oder ein Feind? Sie ahnte es nicht, dennoch folgte sie ihm.
Der Verräter an Black Thorn ging schnell, er schlich sich hastig durch die Schatten, sein Gesicht war stets abgewandt von dem blassen Mondlicht. Noch immer umringten Männer die Ställe, Lichter schienen aus den Fenstern des Schlosses, wo sie noch vor ein paar Stunden mit dem Baron getanzt und geflirtet hatte. Lieber Gott, das schien schon eine Ewigkeit her zu sein.
Hinter der Windmühle liefen sie über einen mit Kies bestreuten Weg zum hinteren Torhaus. Apryll bereitete sich insgeheim auf ihre Verteidigung vor. Sicher gab es dort Soldaten, doch sie folgte der dunkel gekleideten Gestalt durch ein Tor und dann zwei Stockwerke hinauf, niemand begegnete ihnen.
»Sie sind alle beim Feuer«, erklärte ihr Begleiter, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er öffnete die Tür eines kleinen Raumes, wo im Licht der Fackel Klingen aus Metall glänzten. »Beeilt Euch.« Auf der anderen S
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