Geliebte Feindin
Decks, andere saßen in der Messe oder lagen in den Hängematten. Alle hatten ihre Messer in Griffweite, und Nathan argwöhnte, daß sie sich vorgenommen hatten, ihre Herrin gegen jeden Angreifer zu verteidigen.
Die Tür zur Kajüte war nicht verschlossen. Als Nathan eintrat, fiel sein Blick sofort auf Sara. Sie schlief tief und fest und preßte ein Kissen an ihre Brust. Zwei brennende Kerzen in Glaszylindern standen auf dem Schreibtisch, und der Schein der flackernden Flammen malte tanzende Schatten auf Saras zartes Gesicht.
Nathan schloß leise die Tür und lehnte sich dagegen. Er hatte solche Sehnsucht nach ihr gehabt, daß er sie lange betrachtete, während sich der Knoten in seiner Brust löste.
Ab und zu schluchzte sie, und Nathan ahnte, daß sie sich in den Schlaf geweint hatte. Dieses Wissen verursachte ihm furchtbare Schuldgefühle.
Er konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen – guter Gott, er liebte sie, und die Erkenntnis tat nicht halb so weh, wie er immer befürchtet hatte.
Caine hatte recht gehabt; Sara hätte niemals etwas getan, was ihm geschadet hätte. Was für ein Narr war er doch gewesen! Wie hatte er nur so blind sein können? Sara war nicht sein Feind, sondern sie hielt eisern zu ihm. Ihre Liebe verlieh ihm grenzenlose Kraft, und gemeinsam konnten sie jeder Herausforderung begegnen – gleichgültig, ob Gefahr von den Winchesters oder den St. James drohte. Solange Sara an seiner Seite war, war er unbesiegbar. Der Gedanke, daß er sie nie mehr anschreien oder zurechtweisen dürfe, war zu überwältigend.
Nathan wandte den Blick von seiner Frau und sah sich um.
Sara hatte die Kajüte zu ihrem Heim gemacht. Überall lagen ihre Sachen verstreut, und sie hatte sogar ein paar Wäschestücke gewaschen und auf einer Leine, die sie von Wand zu Wand gespannt hatte, aufgehängt.
Er mußte den feuchten Kleidungsstücken ausweichen, als er sich auszog und fieberhaft überlegte, wie er die richtigen Worte finden konnte, um ihr zu sagen, wie leid ihm alles tat. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie jemanden um Vergebung gebeten, aber er war entschlossen, es jetzt zu tun.
Er stieß an die Wäscheleine, und eines von Saras seidenen Hemden fiel auf den Boden. Als Nathan es wieder aufhängen wollte, sah er, was seine Frau als Wäscheleine benutzt hatte. »Du mißbrauchst meine Peitsche als Wäscheleine?«
Er hatte wirklich nicht schreien wollen – es war einfach über ihn gekommen, aber nicht einmal seine donnernde Stimme konnte Sara aufwecken. Sie murmelte im Schlaf und drehte sich auf den Bauch.
In kürzester Zeit hatte sich Nathan wieder beruhigt, und er war sogar in der Lage, über die Situation leise zu lachen. Morgen, so nahm er sich vor, nachdem er mit ihr über die Gefahr einer Feuersbrunst, wenn sie nachts die Kerzen brennen ließ, geredet hatte, würde er die Sprache auf die seltsame Wäscheleine bringen und sie bitten, seine Sachen nicht zu mißbrauchen. Er legte sich vorsichtig neben Sara und nahm sie sachte in seine Arme.
Er fand erst bei Sonnenaufgang Schlaf, und als er ein paar Stunden später erwachte, drehte er sich um, um seine Frau an sich zu ziehen.
Sie war nicht da. Ihre Kleider waren auch weg. Nathan zog sich an und ging an Deck, um sie zu suchen.
Als erster begegnete ihm Matthew. »Wo ist Sara?« fragte Nathan.
Der Seemann deutete zum Pier. »Colin war hier, um einige Papiere zu bringen. Er hat sie zurückgerudert.«
»Warum, zum Teufel, habt ihr mich nicht geweckt?«
»Sara hat uns nicht erlaubt, dich zu stören. Sie sagte, daß du wie ein Toter schläfst.«
»Das war sehr … rücksichtsvoll von ihr«, murmelte Nathan.
Matthew schüttelte den Kopf. »Wenn du mich fragst, dann wollte sie dir eher aus dem Weg gehen. Außerdem haben wir ihr gestern ganz schön zugesetzt. Wir haben sie gehen lassen, weil wir alle ein schlechtes Gewissen haben.«
»Was meinst du damit?«
»Jimbo hat ihr eine richtige Standpauke gehalten und ihr klargemacht, wie gefährlich London für eine Frau sein kann, die sich allein in die Stadt wagt. Als Jimbo fertig war, ist Colin in die Bresche gesprungen und hat ihr noch einmal dasselbe erzählt. Dann Chester … Iwan und zum Schluß alle anderen. Ich hab’ so etwas noch nie erlebt.«
Nathan versuchte, sich die Szene vorzustellen und lächelte. »Die Männer sind ganz schön besorgt um sie, stimmt’s?« Er wollte sich schon auf den Weg machen, um seiner Frau zu folgen, hielt aber noch einmal inne. »Matthew, wie hat sich Sara
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