Geliebte Gefangene
Schau mich doch an. Wenn ich auch nur einem Viertel der Damen, die mir angelastet werden, Liebesdienste geleistet hätte, könnte ich kaum mehr kriechen, weil ich von der Syphilis zerfressen wäre.“
Traurig blickte sie ihn an, ihr Gesicht beschattet von dem hässlichen Hut. „Es fällt mir schwer zu glauben, dass du ein Heiliger bist, Harry.“
„Aber das behaupte ich doch gar nicht, Sophie“, entgegnete er. Er wusste nicht, welche Antwort sie erwartete. In seinem Leben hatte es andere Frauen gegeben, das konnte er nicht leugnen. Das Beste war, wenn er sich jetzt an die Wahrheit hielt. Und Sophie verdiente, die Wahrheit gesagt zu bekommen. Er konnte nur hoffen, dass sie ihr genügte.
„Als ich aus Frankreich zurückkehrte“, begann er erneut, „und du nicht mehr da warst, und … und auch die früheren Zeiten vorbei waren, da war ich … na ja, da war ich kein Heiliger. So, das ist die Wahrheit. Doch solche Frauen sind nur etwas für ein, zwei Nächte, das weiß ich nun. Und ich spreche jetzt davon, wie ich einmal war, nicht, wie ich heute bin. “
„Danke, Harry. Danke, dass du mir das erzählt hast. Aber ich gehe trotzdem in keinen anderen Gasthof mit dir.“ Sie seufzte tief und schlang die Zügel fester um die Finger. „Wenn ich es täte, könnte ich genauso gut all meine Zeugnisse zerreißen und im Wind verstreuen, so viel würden sie mir dann noch nützen.“
„Also kein Gasthof. Aber was ist mit der Brücke da vorne?“,
fragte er und deutete auf eine niedrige alte Steinbrücke, die in geringer Entfernung vor ihnen über einen Fluss führte. Das Ufer dort fiel sanft zum Wasser hin ab und war mit alten Weiden bewachsen, die auf beiden Seiten des Flusses ihre langen Zweige ins Wasser tauchten. „Wir können dort haltmachen und die Pferde tränken. Und dein guter Ruf als Gouvernante bliebe so unbefleckt wie eh und je.“
Nachdenklich verzog sie den Mund. „Ja, wir könnten hier eine Rast einlegen“, stimmte sie zögernd zu. „Wegen der Pferde, nicht meinetwegen.“
„Oh, natürlich.“ Er übernahm die Führung und geleitete Sophie zu der Brücke und die Uferböschung hinab. Jetzt im Frühling hatte das Gras gerade wieder zu sprießen begonnen. Nahe beim Wasser waren die jungen Halme frisch und weich, und unter den moosbewachsenen Steinbögen der Brücke trieb das Schilf neu aus. Das sanfte Plätschern des Flusses schallte von den Steinquadern zurück wie Elfengelächter, während der Widerschein des Mondes wie eine glitzernde, immer wieder zersplitternde Scheibe auf der bewegten Wasseroberfläche lag.
Harry stieg aus dem Sattel und drehte sich um, da er Sophie vom Pferd helfen wollte. Doch sie war bereits abgestiegen und führte nun ihr Pferd zum Fluss, um es trinken zu lassen. Schon als Mädchen hatte sie es abgelehnt, verwöhnt und verhätschelt zu werden. Und wie es aussah, schien das immer noch der Fall zu sein, stellte er trocken fest, was das und vieles andere in Bezug auf Sophie betraf. Sie war eben eine eigenständige Frau geblieben.
„Wollen wir nachschauen, was Connor uns zu essen eingepackt hat?“, fragte er und klopfte auf die prall gefüllte Satteltasche. „Wie wär’s mit einem späten Dinner?“
Sie schüttelte den Kopf. „Danke, nein, ich bin nicht hungrig“, erwiderte sie abwesend und kauerte sich am Ufer ins Gras. „Schau nur, Harry, Maiglöckchen! Die ersten, die ich in diesem Frühling sehe.“
Vorsichtig pflückte sie eine der zarten Blumen und hielt sie ihm hin, damit auch er sie sehen konnte. Die winzigen weißen Glocken zitterten, als sie ihren Duft einatmete.
„Ach, Harry, gibt es etwas Süßeres?“, schwärmte sie. „Alle Jahre wieder kommen sie mit dem Frühling. Manche Dinge ändern sich nie, nicht wahr?“
„Manche Dinge tun das nie“, stimmte er ihr leise zu und trat näher, um nach ihrer Hand mit der Blume zu greifen, die sie ihm hinhielt. Es war aber nicht das Maiglöckchen, das ihn interessierte. „Manche Dinge verändern sich nie, ganz egal, wie viele Jahre vergehen.“
„Andere hingegen schon“, entgegnete sie trocken. „Sieh dich an. Als du nach Frankreich fuhrst, warst du ein Junge mit einer sonnenverbrannten Nase und einem scheuen Lächeln. Und jetzt … jetzt bist du ein bedrohlicher, schwarz gekleideter Straßenräuber geworden.“
„Das betrifft nur mein Äußeres und ein paar meiner dunklen Seiten“, sagte er, obwohl er wusste, dass es nicht stimmte. Er hatte sich verändert – er brauchte nur an George zu denken, um zu
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