Geliebte Gefangene
gesunden Menschenverstand hätte.“
„Oh, verflixt und zugenäht“, murmelte sie finster und stülpte sich den Hut auf den Kopf. „Du solltest beten, dass dein letz ter Gedanke vor dem Sterben nicht ist: ‚Hätte ich ihr doch die Pistole gegeben!‘“
„Was bist du nur für eine Art von Gouvernante, dass du solch mörderische Gedanken hegst?“, fragte er, während er sein Pferd neben sie lenkte und mit ihr zur Straße zurückkehrte. „Sorgst du auf diese Art für Frieden unter deinen kleinen Schützlingen?“
„Bei kleinen Jungen funktioniert das ausgezeichnet“, gab sie zurück. Und da sie immer noch verärgert war, würdigte sie ihn keines Blickes und schaute stur geradeaus. „Ich kenne den üblichen Lehrstoff sehr gut, aber ich bin auch auf anderen Gebieten sehr geschickt, wie zum Beispiel im Schlagen von Kricketbällen oder im Befestigen von Fliegen an einer Angel fürs Fliegenfischen – alles Dinge, die junge Gentlemen lernen müssen. Und natürlich kann ich einen Frosch oder eine Kaulquappe mit nichts als meiner bloßen Hand fangen.“
„Und das bringst du den Töchtern bei? Wie man eine Kaulquappe mit der bloßen Hand fängt?“
„Wie, statt eines Ehemanns?“ Endlich lachte sie. Wie hatte er dieses Lachen vermisst! Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Hut gerade aufzusetzen. Zerbeult und schief sitzend, passte er zu ihrem Lachen. „Das ist der Grund, wieso ich niemals eine Anstellung bei einer Familie mit Töchtern angenommen habe. Ich konnte es einfach nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Ich könnte Mädchen gut genug in Französisch und Grammatik unterrichten, doch wenn es dann um die Fertigkeiten ginge, die bei jungen Damen erforderlich sind – feine Leinenstickereien, Klavier spielen, sanft mit dem Fächer wedeln und Tee einschenken –, würde ich völlig versagen. Ich bezweifle, dass ich auch nur eine annehmbare Haarschleife zustande brächte.“
„Ich bin überzeugt, du könntest es“, antwortete er. „Wenn du es wolltest.“
„Aber wie soll ich etwas lehren, was ich selbst nie gelernt habe?“, fragte sie mit ihrer üblichen Logik. „Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich ein mutterloses Kind war, das zu viel Zeit damit verbrachte, mit dir und George im Herrenhaus herumzutoben.“
„Es war immer unsere Schuld, nicht wahr?“ Es war gerechtfertigt, dass sie so offen und voller Zuneigung über seinen Bruder sprach. Schließlich hatten sie einen Großteil ihrer Kindheit mit einander verbracht. Doch jedes Mal, wenn sie in dieser Nacht Georges Namen erwähnt hatte, schien es, als lebte er noch und würde in Hartshall auf sie warten.
Wusste sie es denn wirklich nicht? Das war gut möglich; die Anzahl junger Männer, selbst Männer von Stand, die in diesem Krieg mit Frankreich gefallen waren, war erschreckend hoch, und die Nachricht, dass George unter ihnen war, war nur eine von vielen gewesen.
„Du bist sehr still“, stellte sie fest, sodass er sich fragte, wie lange er wohl schon in melancholischem Schweigen versunken neben ihr herritt. „Sind Kobolde in den Bäumen?“
„Ich sehe auf jedem Zweig ihre Augen glühen.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. Keine Kobolde, dachte er düster, aber Geister. Zumindest ein besonderer, sommersprossiger Geist, der zu jung gestorben war. Er wusste, dass er ihr jetzt von Georges Tod erzählen müsste. Es aufzuschieben würde das Unvermeidliche nur noch schlimmer und schmerzlicher machen. Doch er war noch nicht bereit, die frische Wunde aus Kummer und Schuldgefühlen wieder zu öffnen. Feigling, der er war, konnte er es nicht, noch nicht einmal mit Sophie an seiner Seite.
„Dann sollten wir vielleicht diese Kobolde nach dem Weg fragen“, meinte sie trocken. „Wir sind doch nicht in die Irre gegangen, oder?“
„Ganz und gar nicht“, erwiderte er und warf einen prüfenden Blick zum Mond und all den Sternen über ihnen. Er konnte den nächtlichen Himmel vielleicht nicht so gut wie ein Seemann lesen, doch er wusste genug, um Nord von Süd unterscheiden zu können. Sie hatten den Wald verlassen. Hinter niedrigen Steinmauern rechts und links der Straße erstreckten sich jetzt weite Felder. Vor ihnen bildeten struppige Bäume und Büsche ein dicht verwachsenes Gehölz. Aus seiner Mitte ragte eine einzelne Eiche empor. Überall würde er diese Eiche erkennen. Diesen knorrigen Wegweiser konnte er gar nicht verwechseln.
„Siehst du die alte Eiche dort mit dem Ast, den der Blitz gespalten hat?“, sagte er zuversichtlich.
Weitere Kostenlose Bücher