Geliebte Gefangene
eingeschlagen war. Der Hof war mit Steinbrocken übersät. Mann kämpfte gegen Mann mit Schwert und Lanze, und die Körper der Toten lagen neben der Asche der Feuer im Schnee.
Dann hörte sie Schreie. „Feuer!“
Anne sah zum Fuß des Turms hinunter und entdeckte Gerard Malvoisier. Für einen Moment sah er zu ihr hinauf. Mit einem Lächeln auf den Lippen entzündete er eine Fackel und ließ sie mit offensichtlicher Absicht zu Boden fallen. Das Schießpulver fing Feuer und zischte. Edwina schrie auf.
„Er hat den Turm angezündet! Er will, dass wir alle bei lebendigem Leib verbrennen!“
Die Explosion erschütterte die alten Mauern und riss die beiden Frauen beinahe von den Füßen. Die Luft im Zimmer war kalt, aber man konnte schon die ersten Spuren von Rauch bemerken. Vom Hof drang Geschrei und das Zischen und Knacken von Feuer zu ihnen empor.
Anne wirbelte herum. „Wir müssen alle über die Hintertreppe zum Burggraben hinunterbringen. Das ist unsere einzige Chance!“
Edwina nickte. Panik stand in ihren Augen. „Euer Vater, Madam …“
Anne sah zu der stillen Gestalt auf dem Bett hinüber. Angst griff mit kalten Fingern nach ihrem Herzen. Sie wusste, dass er sie verlassen hatte. Er war in der Nacht gestorben, und sie hatte geschlafen, zu müde, um es zu bemerken. Sie fühlte sich unendlich elend und allein.
„Es ist zu spät.“ Ihre Stimme bebte. „Komm.“
Schnell zog sie Edwina in den Korridor, in dem die Bediensteten schon wie verängstigte Tiere umherliefen. Kleine Kinder schrien, und Frauen weinten. Die Luft füllte sich mit dem Geruch von Rauch und etwas noch Gefährlicherem. Anne erkannte sofort, was es war. Schwefel! Malvoisier hatte eine explosive Mischung aus Stroh und Schwefel benutzt, um den Turm anzuzünden.
„John!“ Sie griff nach dem Arm des Dieners. „Suche Muna und helft Sir Henry die Treppe hinunter. Edwina …“, sie griff ihre alte Kinderfrau bei der Hand, „kümmere dich um den Schatz des Königs. Sorge dafür, dass er sicher verwahrt ist.“
Dann leitete sie alle den Korridor entlang bis zu der kleinen Tür, die zur Hintertreppe führte. Der Turm ächzte und bebte, als das Feuer weiter von ihm Besitz ergriff. Anne konnte hören, wie es fauchend die Haupttreppe erreichte und die Wandbehänge Feuer fingen. Ihre Hand zitterte, als sie die Tür aufschloss und sie öffnete. Ein Stoß kalter Luft kam ihr entgegen und ließ die Flammen weiter auflodern.
„Schnell! Beeilt euch! Hinunter zum Burggraben!“ Sie lief ihnen voran die Treppe hinunter, doch die Tür am Fuße ließ sich nicht öffnen. Sie war durch die Feuchtigkeit aufgequollen und blieb widerspenstig verschlossen, bis John sie mit einem mäch tigen Tritt aufstieß. Sie stürzten hindurch und fanden sich auf dem kleinen Wall über dem Burggraben wieder.
Edwina blieb stehen. An der einen Hand hatte sie Muna, an der anderen ein kleines Kind. „Ich kann nicht schwimmen!“ Die nachrückenden Menschen schoben sie beinahe ins Wasser. „Oh, Madam …“
Die Soldaten der Parlamentarier hatten die äußeren Verteidigungswälle durchbrochen und sich auf der anderen Seite des Burggrabens in Angriffsformation aufgestellt. Reihe auf Reihe von Männern in voller Rüstung. Die Greville-Standarte flatterte im Wind.
Annes Stimme erhob sich über das Brüllen des Feuers und das Knallen der Musketen im Burghof. „Nicht schießen! Helft uns! Wir haben Sir Henry Greville!“
Sie sah, dass der Captain Guy Standish war, und fühlte eine Welle der Erleichterung, als er eine Hand hob und die Musketiere daraufhin ihre Waffen senkten. Einer der Männer kam mit einem grob gehauenen Steg gelaufen und legte ihn über den Burggraben. John griff das andere Ende und sicherte es auf ihrer Seite. Die völlig verängstigten Bediensteten eilten auf die andere Seite in Sicherheit. Halb gestützt, halb getragen von John und Muna überquerte auch Sir Henry die Brücke. In diesem Augenblick öffneten sich die Reihen der feindlichen Soldaten, um einen Mann zu Pferde durchzulassen.
Es war Simon Greville. Seine Rüstung hatte die graue Farbe von Zinn, gepaart mit dem Scharlachrot und Schwarz der Grevilles. Er sprang vom Pferd, und Anne sah, wie er Henry in einer Umarmung auffing und eng an sich drückte. Dann schaute er auf, und ihre Blicke trafen sich. Anne stockte der Atem. Der Letzte der Bediensteten hatte die Brücke überquert, und Edwina, noch immer das kleine Mädchen an der Hand, winkte ihr zu, endlich ebenfalls zu kommen. Ein eiskalter
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