Geliebte Gefangene
hatte keine Wache am Tempest Tower aufstellen lassen. Es schien fast, als wäre ihm die Sicherheit des Earls und seiner Tochter gleichgültig. Aber überall sonst hatten seine Truppen genug zu tun. Durch den dichten Vorhang aus Schnee konnte Anne beobachten, wie sie die Wehrgänge erklommen und die Türme besetzten. Es gab Soldaten mit Musketen, um jeden, der tollkühn genug war, die Mauern erklimmen zu wollen, abzuwehren. Es gab Lanzenträger mit ihren Bajonetten und Artilleristen, die große Fässer mit Schießpulver durch den Hof rollten. Die Feuer, die diese düstere Szenerie erhellten, zischten und knackten. Anne wusste, dass Grafton gut mit Geschützen bestückt war. Sie waren noch einmal aufgestockt worden, als Malvoisier das Kommando übernommen hatte. Aber genau diese Ansammlung von Schießpulver und Waffen könnte auch in einem Feuerball explodieren, wenn sie sich entzündete. Und dann wären sie alle verloren.
Sie schauderte, trat zurück in den Turm, schlug die schwere Eichentür hinter sich zu und schob die Riegel an ihren Platz. Die Fackeln flackerten zischend in ihren Halterungen, als der Wind den Gang entlang und die steinerne Treppe hinaufstrich. Dann herrschte Stille. Anne rief sich in Erinnerung, dass der Tempest Tower seit Hunderten von Jahren immer wieder den Kriegen standgehalten hatte, doch der Gedanke konnte sie nicht beruhigen. Aus dem Hauptraum drangen die leisen Stimmen von John, Edwina und den anderen Frauen ihres Haushalts zu ihr. Einen Moment hielt sie inne, um sich zu sammeln, bevor sie die Tür öffnete. Sie saßen eng zusammen vor dem Feuer. Als sie hereinkam, drehten sich alle zu ihr, und als sie die Hoffnung in ihren Gesichtern sah, brach es ihr beinahe das Herz. Die meisten hatten Ehemänner, Väter oder Söhne in der Garnison.
„Es ist alle vorbereitet, Mylady“, sagte Edwina tapfer. „Nun können wir nur noch warten.“
Anne nickte, kehrte zurück in die Kammer ihres Vaters und setzte sich wieder neben ihn ans Bett. Die Kerze war inzwischen heruntergebrannt, und der Geruch von Talg hing in der Luft. Lord Graftons Körper zeichnete sich kaum mehr unter der Fülle der Decken ab, so dünn und schwach war er geworden. Sein Atem schien wieder etwas unruhiger als noch vor einen halben Stunde. Eine einzelne Träne lief Anne die Wange hinab, und sie wischte sie ungeduldig fort. Der Arzt hatte gesagt, dass ihr Vater ihre Stimme erkennen konnte, selbst wenn es nicht den Anschein hatte, dass er sich ihrer Gegenwart bewusst war. Er hatte sie ermutigt, ihm vorzulesen, aber in dieser Nacht konnte Anne sich nicht dazu aufraffen. Stattdessen saß sie ruhig bei ihm und ließ in Gedanken noch einmal alles Revue passieren, was gesche hen war, seit Gerard Malvoisier nach Grafton gekommen war. Sie betete inständig, dass am nächsten Tag das Gute siegen würde. Sie fühlte sich innerlich zerrissen. Denn sie wusste, dass sie eigentlich dafür beten sollte, dass Gerard Malvoisier als Sieger aus der Schlacht hervorging, aber sie wusste auch, dass dann alle Hoffnung auf Recht und Gerechtigkeit in Grafton verloren wäre. Tränen trockneten auf ihren Wangen, als sie endlich einschlief.
„Madam! Madam!“ Grobe Hände schüttelten sie wach. Anne fühlte sich wie zerschlagen. Sie war mit dem Kopf auf dem leinernen Laken ihres Vaters eingeschlafen. Seine Hand ruhte unter ihrer Wange, kalt und dünn wie Pergament und noch feucht von ihren Tränen. Langsam setzte sie sich auf. Ihr gesamter Körper protestierte, und sie unterdrückte ein Stöhnen.
Sie sah, dass die erste graue Andeutung des Morgens über die Zinnen der Burg kroch. „Was ist geschehen? Hat der Angriff begonnen?“
„Ja, Mylady.“ Edwina konnte vor Angst kaum ein Wort herausbringen und zog an Annes Arm. „Kommt und seht selbst!“
Anne stolperte hinüber zum Fenster. Ihr Körper fühlte sich kalt und steif an. Bevor sie noch das Fenster erreicht hatte, hörte sie schon das unverwechselbare Donnern der Kanonen und das Krachen, als eine Kugel die Steinmauer traf.
„Sie brechen die Wände nieder“, sagte Edwina und grub ihre Finger verzweifelt in Annes Arm. „Das Tor ist bereits zerstört! Oh, Madam …“
Einen Augenblick lehnte Anne sich gegen die Wand und starrte aus dem Fenster. Es war eine Szene wie aus der Hölle. Es hatte aufgehört zu schneien, aber der Himmel zeigte noch immer ein bedrohliches Grau. Das Haupttor der Burg hing schief in den Angeln. Ein riesiges Loch klaffte neben ihm in der Wand, wo die Kanonenkugel
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