Geliebte Gefangene
darunter konnte sie seine Muskeln fühlen. Er war stark und verlässlich. Sie wollte fester zugreifen, etwas von seiner Stärke in sich aufnehmen, und es kostete sie Mühe, es nicht zu tun. Es war so verführerisch. Und doch musste sie mit all ihrer Kraft dagegen ankämpfen.
Schweigend gingen sie die Treppe hinunter. Als sie den Eingang zur Großen Halle erreicht hatten, blieb Simon stehen und trat zurück, um sie allein vorgehen zu lassen. Anne warf ihm einen fragenden Blick zu, und er nickte in Richtung der Tür.
„Heute Abend seid Ihr die Herrin von Grafton. Es ist nur richtig, dass Ihr zuerst hineingeht.“
Obwohl sie von Trauer überwältigt war, wusste sie die Geste zu schätzen. Sie hatte einen Kloß im Hals und konnte nichts sagen, aber sie nickte und trat mit hoch erhobenem Haupt durch die Tür. Dieser Abend gehörte ihr. Sie war die Herrin von Grafton, und sei es nur für eine kurze Weile.
Als sie eintrat, senkte sich Stille über den Raum. Die Halle war zum Bersten voll. Alle Einwohner Graftons, der Burg, des Dorfes und seiner Umgebung hatten einen Platz auf den Holzbänken gefunden, an denen schon jetzt das Ale in Strömen floss. Als sie durch die Menge schritt, sah Anne, dass Simons Männer in der scharlachrot-schwarzen Uniform der Grevilles zwischen ihren eigenen Leuten saßen. Sie waren ein eindrucksvoller Anblick, aber ihre Anwesenheit wurde nur mit vorsichtigem Respekt geduldet. Die schwarzen Banner, die von den Deckenbalken hingen, ließen niemand den traurigen Anlass oder die Bedeutung der Anwesenheit der parlamentarischen Truppen vergessen.
Es war ein langer und einsamer Weg bis zu der erhöhten Plattform am anderen Ende des Raumes. Anne stieg die Stufen hinauf und setzte sich an ihren Platz in der Mitte des Tisches. In der Stille, die über dem Raum hing, hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Anne straffte sich und holte tief Luft. „Ich danke Euch allen, dass ihr heute Abend gekommen seid, um dem verstorbenen Earl of Grafton Respekt zu erweisen. Mein Vater wusste Eure Loyalität während seines ganzen Lebens sehr zu schätzen, und er bat mich, Euch zu sagen, dass er keine Trauer über seinen Tod wünscht, sondern dass voller Dankbarkeit sein Leben gefeiert werden soll.“ Sie hob ihr Glas, und das Licht der Fackeln brachte den dunkelroten Wein zum Funkeln.
„Auf den Earl of Grafton“, sagte sie. „Möge er in Frieden ruhen.“
In der ganzen Halle wurde ihr Toast feierlich und ernst wiederholt, aber dann hob jemand anders seinen Becher. „Und auf seine Tochter, Lady Anne of Grafton, eine gerechte und gute Herrin!“
Ein Raunen der Zustimmung lief durch die Menge, und alle prosteten ihr zu. Anne lächelte. Die Loyalität dieser Menschen berührte sie tief und drang durch die kalte Einsamkeit, die ihr Herz umschloss. Sie sah sich nach Simon um. Er war zurückgeblieben, damit sie allein zu der Menge sprechen konnte. Sie bedeutete ihm, zu ihr auf das Podium zu kommen und seinen Platz neben ihr einzunehmen. Sie wusste, dass diese Geste von den Einwohnern Graftons falsch verstanden werden konnte, aber sie hatte kaum eine Wahl. Simon gab jetzt die Befehle, und das Mindeste, was sie an diesem Abend tun konnte, war, in der Öffentlichkeit ein Beispiel ihrer Höflichkeit zu geben, egal, wie sie auch im Stillen rebellieren mochte.
Die Bediensteten trugen schon Platten mit dampfenden Braten und all den Köstlichkeiten, auf die im Gut während der Belagerung hatte verzichtet werden müssen, herein. Die Stimmung hob sich, und bald erfüllte fröhlicher Lärm die Halle. Zu seinen Lebzeiten war der Earl seinen Leuten ein guter Herr gewesen, und es war nur richtig, dass sein Tod mit allen Zeichen des Respekts, aber auch mit einem prächtigen Fest begangen wurde.
„Ein Stück Braten, Mylady?“ Simon hielt ihr eine Schüssel hin. „Ihr müsst etwas essen, sonst werdet Ihr noch krank.“
Anne verspürte nicht den geringsten Appetit. „Ich kann nicht.“ Sie blickte auf ihr halb ausgetrunkenes Glas Wein. „Und ich sollte auch keinen Wein mehr trinken. Auf nüchternen Magen wäre das sehr töricht.“
Simon lächelte. Für einen Moment bedeckte seine Hand ihre eiskalten Finger, zu schnell, als dass jemand es hätte bemerken können. Die Wärme seine Berührung drang durch ihre Trauer. „Ihr seid mehr als tapfer. Grafton kann sich glücklich schätzen, Euch seine Herrin zu nennen.“
Abrupt zog Anne ihre Hand weg und schob mit der Gabel ihr Essen auf dem Teller hin und her. „Dann
Weitere Kostenlose Bücher