Geliebte Gefangene
jetzt zeigte sich, dass seine Leute innerlich zerrissen waren. Sie würde sie nicht zusammenhalten können, so wie er es getan hatte. Die bittere Ungerechtigkeit machte ihr das Herz schwer.
Die Pagen öffneten die Türen der Großen Halle für sie, und sie eilte den Korridor hinunter. Es war dunkel hier, still und kalt. Nur die Fackeln an den Wänden erhellten ihren Weg. Anne sehnte sich nach der Einsamkeit ihres Zimmers. Sie wollte jetzt nur noch allein sein.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch hinter sich und wirbelte herum. Simon folgte ihr und holte sie mit seinen langen Schritten mühelos ein. Anne ignorierte ihn und ging schneller, doch als sie die Eichentreppe erreichte, die zu ihren Zimmern führte, streckte er einen Arm aus und blockierte ihren Weg.
„Einen Augenblick, Mylady.“
„Lord Greville …“ Mit großer Mühe gelang es Anne, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. „Ich bin sehr müde. Und ich bin sehr wohl dazu in der Lage, den Weg zu meinen Zimmern allein zu finden. Ihr braucht auch keine Angst zu haben, dass ich mich heute Nacht noch hinausschleichen könnte, um nach dem Schatz des Königs zu sehen. Ihr könnt mich also in Ruhe lassen.“
„Natürlich.“ Simon sprach mit derselben Höflichkeit, die er ihr immer zeigte, eine Höflichkeit, die seine angeborene Autorität jedoch nicht verbarg. „Ich wollte Euch nur um eine Unterre dung am morgigen Tag bitten, Lady Anne. Wenn Ihr Euch stark genug dafür fühlt.“
„Natürlich bin ich stark genug“, fuhr Anne ihn an. Dass sie sich im Moment alles andere als robust fühlte, schürte ihren Ärger nur. „Ich bin mir nur nicht sicher, was wir Sinnvolles zu besprechen haben könnten.“
Simon lächelte. „Die Zukunft Graftons ist es, die mich beschäftigt“, sagte er leise. „Und die seiner Herrin. Über beides muss bald entschieden werden.“
„Das habe ich Euren Bemerkungen in der Halle schon entnommen“, erwiderte Anne. Voller Unruhe trommelte sie mit den Fingern auf das Treppengeländer. „Ihr müsst Euch keine Sorgen machen, dass ich von Euch erwarte, Euer Wort zu halten, Lord Greville. Ich verlasse mich darauf, dass der König meine Zukunft sichert, nicht das Parlament.“
„Auf den König ist in dieser Hinsicht kaum Verlass.“ Simons Stimme klang gefährlich sanft. „Er war derjenige, der Eurer Verlobung mit Malvoisier zugestimmt hat, falls Ihr das vergessen haben solltet.“
„Ich habe es nicht vergessen“, sagte Anne, darum bemüht, ihre Stimme möglichst ausdruckslos klingen zu lassen.
„Ich versichere Euch, dass ich ein viel besserer Ehemann als Malvoisier für Euch wäre, und ich habe das Gefühl, die Menschen von Grafton würden mir da zustimmen.“
Ein kalter Windstoß blies den Korridor entlang und ließ Anne frösteln. „Ich muss vorsichtig sein, was meine Entscheidungen für die Zukunft angeht, egal, was meine Leute denken.“
Simons Zähne blitzten auf, als er lächelte. „Ihr einziger Wunsch ist es, Euch sicher zu wissen – und glücklich, Mylady. Und dass Euer Ehemann eine starke schützende Hand über Grafton hält.“
„Es erstaunt mich, dass sie glauben, Ihr könntet dieser Mann sein“, erwiderte Anne, eine Augenbraue ungläubig hochgezogen. „Denn Ihr seid der gefährlichste Mann, der mir je begegnet ist.“
Simon bewegte sich ein wenig, versperrte ihr aber immer noch den Weg. „Nehmt meine Werbung an“, sagte er, und Anne wurde wieder bewusst, dass es eine Forderung und keine Bitte war. „Ich biete Euch meinen Schutz. Ihr habt einmal gesagt, dass Ihr alles tun würdet, um Grafton zu schützen.“
Verärgert funkelte Anne ihn an. „Dies ist die Totenfeier für meinen Vater, und ich werde diese Dinge jetzt nicht mit Euch besprechen.“
„Dann morgen“, beharrte Simon. „Ihr müsst eine Entscheidung treffen. Ihr habt gesehen, was heute Abend passiert ist, Mylady. Ihr könnt Grafton nicht zusammenhalten und beschützen. Aber ich kann es.“
In einer kurzen verzweifelten Geste presste Anne die Fingerspitzen an ihre Schläfen. „Ich werde mich Euch nicht unterwerfen!“ Sie starrte ihn an. „Ich werde selbst eine Möglichkeit finden.“
Entschieden schüttelte Simon den Kopf. „Es gibt keine andere Möglichkeit“, sagte er gnadenlos.
„Das muss es aber!“
Simon schlug mit der flachen Hand gegen die Steinmauer. „Und wie sollte die aussehen? Der König hat Euch aufgegeben! Ihr habt keine Männer, die kämpfen könnten! Schon jetzt denken Eure Leute an Verrat.“ Er senkte seine
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