Geliebte Gefangene
wollte nicht zugeben, dass es daran lag, weil er Anne vermisste. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er sich an ihre Anwesenheit gewöhnt hatte, sei es, dass sie beim Abendessen neben ihm saß, später dann in der Galerie las oder in den länger werdenden Frühlingstagen ihr Pferd auf der Koppel bewegte. Seit der Nacht, in der er ihr befohlen hatte, ihn zu heiraten, hatte sie so wenig Zeit wie möglich in seiner Gesellschaft verbracht. Es war genau das Gegenteil von dem eingetreten, was Simon sich gewünscht hatte. Es gab eine stetig größer werdende Kluft zwischen ihnen. Sie würden heiraten, aber sie entfernten sich schon jetzt weiter und weiter voneinander.
Simon stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus in die raue Nacht. Der Wind hatte zugenommen, ließ die Greville-Flagge an ihrem Mast flattern und heulte durch die Zinnen. In den Feuerbecken zischte es, und die Flammen flackerten im Zug. „Ich kann mich nicht konzentrieren.“ Er runzelte die Stirn. „Irgendetwas liegt heute Abend in der Luft. Und was es auch sein mag, es gefällt mir nicht.“
Henry schichtete die unbenutzten Spielsteine zu Türmen auf. „Ein Angriff?“
Simon schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Noch nicht.
Aber ich habe heute Morgen Nachricht von Fairfax erhalten. Es marschieren Truppen durchs Land, und in der Nähe haben schon einige Scharmützel stattgefunden. Ich denke, dass er mich bald in den Kampf schicken wird, aber erst will er die Sache in Grafton geregelt wissen – vor allem, was den Schatz des Königs betrifft.“
Henry spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfeifen. „Er verlangt viel. Wie kannst du Lady Anne dazu bringen, dir von dem Schatz zu erzählen?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Simon knapp. Er fühlte, wie seine Verbitterung wuchs. Ganz sicher würde er nicht seine Ehre beschmutzen und die Wahrheit aus Annes Bediensteten herausfoltern, aber es kostete ihn einiges, sich zurückzuhalten.
Beide Männer drehten sich um, als sie ein Geräusch am anderen Ende der Galerie hörten. Jackson eilte durch den Raum zu ihnen, sein Gesicht angespannt.
„Reiter, Mylord! Sie tragen die Farben Haringtons!“
Simon tauschte einen schnellen Blick mit Henry. Sein Bruder sah plötzlich unwohl aus.
„Das Wappen Haringtons?“, fragte er. „Die Farben meines Vaters?“
„Ja, Mylord!“ Jackson stand stramm. „Die Farben des Feindes! Soll ich die Zugbrücke senken lassen, Mylord?“
Es zuckte um Simons Lippen. „Natürlich sollt Ihr das, Jackson. Trotz all der Meinungsverschiedenheiten mit meinem Vater werde ich ihm kaum den Zutritt zum Gut verwehren. Er ist kein Streiter in diesem Krieg, und ich wage sehr zu bezweifeln, dass er gekommen ist, um Grafton einzunehmen.“
„Sir!“ Jackson salutierte und eilte davon, während Simon sich wieder seinem Bruder zuwandte.
„Und ob heute Abend etwas in der Luft liegt! Wusstest du etwas davon, Henry?“
Henry sah amüsiert aus. „Glaubst du wirklich, ich würde unseren Vater nach Grafton einladen? Nach allem, was passiert ist, würde ich mich lieber allein der gesamten royalistischen Armee stellen als unserem Vater.“
Missmutig verzog Simon das Gesicht. „Ich teile deine Gefühle, aber ich bestehe darauf, dass du ihn an meiner Seite begrüßt!“
Henrys Lächeln wirkte leicht gequält, als sie nebeneinander die Lange Galerie hinuntergingen. Simon bemerkte, dass sein Bruder wieder deutlich stärker hinkte, vermutlich ein Zeichen seiner Anspannung. Fulwar Greville konnte diese Wirkung auf einen Mann haben. Er war als der Eiserne Earl bekannt, und der Beiname war wohlverdient.
„Nur Mut!“, sagte er sanft, und sein Bruder lachte schwach.
„Also hast du ihn nicht selbst eingeladen?“, fragte Henry.
Simon warf ihm einen entgeisterten Blick zu. „Natürlich nicht! Glaubst du etwa, dass ich ihn hier haben will? Es wird die Hölle auf Erden.“
Zusammen gingen sie die Haupttreppe hinunter und traten in den Burghof. Die Fackeln und Feuerschalen flackerten hell und brachten ein wenig Licht in die stürmische Dunkelheit. Inzwischen ritten die ersten Männer der Kolonne über die Zugbrücke. Die Standarten Haringtons flatterten im Wind. In der Mitte der Reiter war die unverwechselbare Figur des Earls zu erkennen. Simon blieb auf der obersten Stufe stehen und betrachtete ihn für einen Moment wie gebannt. Seinen Vater nach all den Monaten der Entfremdung wiederzusehen war ein seltsames Gefühl, und er musste sich mit einem schiefen Lächeln eingestehen,
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