Geliebte Kurtisane
durchringen konnte, sie auszuteilen – oder der Empfänger sie persönlich abholte. Je nachdem, wer schneller war.
Heute war ein herrlicher Tag, sodass Mr Tatlock zweifellos angeln war. Mark hatte beschlossen, seine Post selbst zu holen, verbunden mit einem entspannten Spaziergang ins Dorf.
„Das geht nicht“, schalt Mrs Tatlock ihn nun, „zum Ritter geschlagen und die eigene Post holen müssen, als wären Sie ein Bedienter!“
Mark seufzte still. „Ich war ohnehin auf dem Weg.“ Zudem hegte er den Verdacht, dass seine Zugehfrau sich etwas zu sehr für seine Korrespondenz interessierte. Der letzte Brief, den sie ihm gebracht hatte, war geöffnet gewesen. Darauf angesprochen, hatte die gute Frau gemeint, sie habe schon immer gesagt, dass diese neuartige Klebepaste nichts tauge. Mark hatten ihre Worte wenig überzeugen können.
„Zudem“, fuhr er jetzt fort, „hat Bewegung bislang niemandem geschadet. Nicht dass ich hier träge werde.“
Sie schien ein wenig besänftigt. „Der Trägheit würde Sie nun wirklich keiner bezichtigen.“ Nachdrücklich schloss sie die Lade und reichte ihm zwei Briefe. „Aber wir sorgen uns um Ihr Wohlergehen. Nur zwei Bedienstete, noch dazu keine, die im Haus leben. Sir Mark, für einen Gentleman, den harte Zeiten angekommen sind, mag dies ein schickliches Arrangement sein, aber doch nicht für einen Ritter Ihrer Majestät! Und Ihr Bruder ein Duke . Nein, es ist ein Skandal, wie Sie hier leben. Was soll man in London von uns denken, wenn erst die Gazetten davon erfahren? Dass wir zu provinziell sind, Sie angemessen zu versorgen …“ Kummervoll schüttelte sie den Kopf.
Nun, ganz unrecht hatte sie nicht. Aber das war Jahre her. Nun fühlte es sich wie der Gipfel der Dekadenz an, im Haus seiner Mutter zu sitzen und jeden Tag frisches Brot zu haben. Er war zurückgekommen, um sich der Vergangenheit zu stellen, nicht, um die Erinnerungen unter neuem Luxus zu begraben.
„Unsinn“, beschied Mark. „Man wird es nur als weiteren Beweis meiner Exzentrizität sehen.“
Sie schnaubte. „Exzentrisch, Sie? Dass ich nicht lache. Sie sind es nicht, der hier fehl am Platz ist – wenngleich ich nichts gesagt haben will.“ Als Mark nicht nachfragte, setzte sie nach: „Anders als manch andere.“
Ganz langsam und bedächtig legte Mark seine Post zurück auf den Schalter und mahnte sich zur Besonnenheit. Er konnte sich denken, wen sie meinte – und sah besagte andere vor sich, nass bis auf die Haut, das sich lockende Haar in Auflösung begriffen.
Aber auf Gerede würde er sich nicht einlassen. Er brauchte auch nicht zu fragen, wer gemeint war. Und an sie denken würde er gleich gar nicht.
„Ah“, machte er unverbindlich.
Ah , so sagte er sich, war letztlich keine Frage.
Doch Mrs Tatlock brauchte man nicht zu bitten. „Mrs Farleigh“, raunte sie. „Mrs Farleigh schreibt jede Woche Briefe.“
Mark nickte und schob seine Post zusammen.
„Jede Woche, pünktlich wie der Hahnenschrei. Jede Woche zwei oder drei Briefe.“
„Ah.“ Mark steckte seine Post ein. Mit dem einen Brief hatte er gerechnet, hatte gewusst, dass seines Bruders Frau sogleich zur Feder greifen würde – all ihren Verpflichtungen als Duchess zum Trotz. Auch die Antwort seines anderen Bruders kam nicht überraschend, weniger umfangreich, wie es sich anfühlte, aber gewiss nicht weniger teilnahmsvoll.
Mrs Tatlock lächelte grimmig. „Mit einem Anwalt korrespondiert sie auch.“
„Und vielleicht mit einer gebrechlichen Verwandten.“
„Vielleicht. Auf manche ihrer Briefe kommt jedenfalls nie eine Antwort.“ Mrs Tatlock kramte hinter sich im Postsack und brachte zwei Umschläge zum Vorschein. Die Anschriften waren mit klarer, kräftiger Hand geschrieben, keine Schnörkel oder versponnenen Linien. Sie schob ihm die Umschläge zu. Der eine war an einen Mr Alton Carlisle in Watford adressiert – Watford war nicht weit von London, das wusste Mark, auch wenn er nie dort gewesen war –, der andere an Amalie Leveque in London.
„Den beiden schreibt sie andauernd. Und jeden Tag fragt sie, ob Post für sie da sei.“ Mrs Tatlock schüttelte den Kopf. „Ich wüsste wirklich gern, wem sie da schreibt. Hier, das klingt nach einer Französin – und wir wissen ja, was das für Leute sind. Keine Moral. Und der andere ist bestimmt ein Liebhaber, dazu einer, der nichts mehr von ihr wissen will, wie es scheint.“
Mark musste wieder an das kaum merkliche Zurückzucken denken, dieses Aufblitzen in ihren Augen
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