Geliebte Kurtisane
zwei Abende zuvor. Noch immer meinte er ihre Stimme zu hören. Ich habe es getan, weil ich Sie hasste.
„Nein“, meinte er nachdenklich, „ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einem Mann hinterherlaufen würde.“
Er war genügend Frauen begegnet, die es darauf abgesehen hatten. Auf den ersten Blick war sie ihm auch so erschienen – die bedeutungsvollen Blicke, das sorgsam geplante Manöver im Regen. Aber all das hatte etwas … seltsam Unschlüssiges an sich. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie aus schierer Verzweiflung einem Geliebten nachstellte. Und trotz allem, was sie sich ihm gegenüber herausgenommen hatte, stimmte ihn die Vorstellung traurig, dass sie Briefe um Briefe schrieb, auf die sie keine Antwort erhielt.
Mrs Tatlock schnaubte verächtlich. „Hat sie wohl nicht nötig, was?“
Er richtete sich auf und bedachte Mrs Tatlock mit seinem anmaßendsten Blick. „Wissen Sie über ihre genauen Umstände Bescheid, Mrs Tatlock?“
„Ich … na ja …“
„Seit ich in Shepton Mallet bin, sind mir viele Mutmaßungen über Mrs Farleigh zu Ohren gekommen, aber nichts davon scheint bewiesen.“
Gut, in gewisser Weise hatte sie es in persona bewiesen, sehr eindrücklich sogar. Wenn er ihre Reputation endgültig hätte ruinieren wollen, hätte er nur von der Begegnung vor zwei Tagen berichten zu brauchen. Doch das wollte er nicht.
„Aber Sir Mark …“
„Kommen Sie mir nicht mit diesem ewigen ‚Sir Mark‘. Eine Frau mit Gerede zu ruinieren, ist nicht minder schäbig, als gegen sie tätlich zu werden.“ Mit grimmiger Miene beugte er sich über den Schalter.
Mrs Tatlock wich hastig zurück. „Aber Sir Mark … ich wollte nur … ich dachte wirklich …“
„Sie dachten? Sie dachten, ich wollte eine Frau geächtet sehen, nur weil sie das Pech hat, hübscher als der Durchschnitt zu sein?“ Kaum merklich hatte sich der fast vergessene Dialekt seiner Kindheit in seine Worte geschlichen. „Oder dachten Sie, ich hätte Freude daran, über Leute herzuziehen, die nicht hier sind, um sich zu verteidigen? Ruinieren Sie niemanden durch Gerede, für das Sie keinerlei Beweise haben. Nicht in meiner Gegenwart.“
Mit großen Augen sah Mrs Tatlock ihn an und grub die Finger ins Grau ihres Rocks. „Oje“, sagte sie schließlich, ihre Stimme eine halbe Oktave höher als sonst. „Ich hätte nicht gedacht … ich hatte angenommen … Nein. Wie konnte ich das nur vergessen. Sie sind eben Elizabeth Turners Sohn.“
Elizabeth Turners Sohn. Mark schüttelte den Kopf, doch es ließ sich nicht leugnen. Er war ihr Sohn, natürlich war er das. Sowohl im besten als auch im schlechtesten Sinne. Er hatte ihre Güte geerbt. Und ihren Eifer. Aber auch ihre Maßlosigkeit.
Er musste an seinen Bruder denken, an die schrecklichen, dunklen Zeiten.
Langsam trat er einen Schritt zurück. „Wenn Sie tratschen wollen“, sagte er versöhnlich, „dann tratschen Sie darüber, Mrs Tatlock. Was man sich über meine Familie erzählt, stimmt wenigstens.“
Anscheinend hatte Mrs Tatlock Marks Fürsprache für Mrs Farleigh für sich behalten – zumindest, bis die Damen der Kirchengemeinde sich zum Picknick zu seinen Ehren zusammenfanden. Mit großem Hallo und hell erfreut hieß man ihn willkommen. Bis auf eine kleine Schar empört gackernder Hühner hatte man alles Vieh von der Gemeindewiese getrieben, um die Zusammenkunft dort abzuhalten. Allerdings waren die Schafe nicht die einzig unerwünschten Lebewesen. Auch die weniger vom Glück begünstigten Gemeindemitglieder hatte man sich vom Leib zu halten gewusst, indem man das Picknick an einem Mittwochmorgen abhielt, an dem das gemeine Fußvolk entweder in den Fabriken tätig war, auf den Feldern oder aber zu Hause am Spinnrad saß. Die einzig arbeitenden Menschen weit und breit waren die eilfertigen Bediensteten.
Als nun Mrs Farleigh eintraf, fuhr ein Schock durch alle Anwesenden. Mit entsetztem Luftschnappen fing es an, setzte sich in leisem Raunen fort. Ehe sie ihnen näher kommen konnte, versuchte eine Horde besorgter Frauen, sie am Rand der Wiese abzufangen. Sie scharten sich um sie, gestikulierten und berieten sich lebhaft.
Obwohl Mark kein Wort dessen hören konnte, was gesagt wurde, konnte er sich den Sturm der Entrüstung vorstellen.
„Hilfe“, könnte beispielsweise Mrs Lewis sagen, „eine schöne Frau in unserer Mitte. Und Brüste hat sie noch dazu.“
So dachte Mark sich das, wüsste er doch nicht, warum sonst sie so eindringlich auf Mrs Farleighs
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