Geliebte Kurtisane
wunderlich zähes Geschöpf und flüsterte ihr beharrlich ein, dass vielleicht etwas käme, um sie für ihren Schmerz zu entschädigen. Sie hatte etwas gut beim Schicksal – und bei der Post. Es war Jahre her, dass ihre Familie sie fortgeschickt, ihr Vater sie des Hauses verwiesen hatte. Warum sollte nicht heute dieser Bann gebrochen werden?
Weil ich diese Woche ein Schreiben von meinem Anwalt bekommen und mehr nicht zu erwarten habe, dachte Jessica bitter.
Wider Erwarten runzelte Mrs Tatlock die Stirn und meinte: „Doch, es ist etwas da.“
Erst jetzt merkte Jessica, dass sie den Atem angehalten hatte. Ganz schwindelig war ihr geworden. Sie holte tief Luft, verschränkte die Hände vor dem Bauch, um sich ihre Überraschung und ihre Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Am liebsten wollte sie sich auf die Frau stürzen und umgehend ihren Brief ausgehändigt bekommen. Eine Vielzahl an Möglichkeiten ging ihr durch den Kopf – ihr Vater könnte ihr geschrieben haben. Oder ihre Mutter, vielleicht auch Charlotte …
„Wenn Sie denn mit … was steht hier? … mit Jess Farleigh gemeint sind.“
Jess. In ihrer Familie hatte niemand sie je Jess genannt. Alle Vorfreude erstarrte und legte sich bleiern auf sie.
„Ja, natürlich“, sagte sie mit tonloser Stimme. „Das bin ich.“
Es gab nur einen Menschen, der sie Jess nannte. Wenn er sie direkt anschrieb und nicht über ihren Anwalt mit ihr kommunizierte, musste er sehr in Sorge sein. Erst wenige Tage war es her seit seiner letzten Nachricht.
Sie hatte keine Lust auf eine weitere Ermahnung, was sie in London erwarten würde. Aber da reichte Mrs Tatlock ihr schon den Brief über den Schalter, und Jessica nahm ihn mit spitzen Fingern entgegen. Westons Hände hatten dieses Papier berührt, seine Daumen dorthin gesetzt, wo nun die ihren waren. Es schauderte ihr, wenn sie nur daran dachte, wie er ihre behandschuhte Hand berührte, von ihrer bloßen Haut ganz zu schweigen.
Sie verließ das Postamt und lief über den Dorfplatz. Sie hätte sich keine Hoffnung machen sollen wegen ihrer Familie. Sich solche Fantasien zu erlauben, war ungesund – als habe man zu viel Süßes verschlungen. Zu Beginn schmeckte es nur köstlich, und man konnte kaum davon lassen. War aber der erste Rausch vorbei, fühlte man sich elend und matt.
Nach sieben langen Jahren sollte sie sich einfach damit abfinden, dass sie für ihre Familie nicht mehr existierte. Gewiss hatten ihre Schwestern sie längst vergessen. Ihr Vater hatte sie aus ihrer aller Gedanken verbannt. Sie dürfte kaum mehr als eine blasse Erinnerung sein. Es war wahrlich keine Enttäuschung, keinen Brief von ihnen bekommen zu haben. Was hatte sie erwartet?
Nur heute hatte sie gehofft … Wider alle Vernunft.
Sie riss Westons Brief auf und zog ein halbes Blatt aus dem Umschlag.
Jess , schrieb er, wie lange soll das eigentlich dauern? Lefevre wird Ende der Woche seinen Rückzug bekannt geben. Ich will Turner, diesen scheinheiligen Idioten, umgehend kompromittiert sehen! Wenn ich den Posten in der Kommission nicht bekomme, kann mir seine Verführung gestohlen bleiben. Also los, halte dich ran. Ich will Ergebnisse sehen.
Sie warf einen Blick auf das Datum des Briefs und begann zu rechnen. Ihre Rückkehr nach London mit eingerechnet, die Zeit, die es bis zu einer Veröffentlichung brauchte … das ließ ihr ganze drei Tage. Drei Tage, die sie noch mit Sir Mark verbringen konnte, ehe sie ihn ruinieren musste.
„Nun, so sieht man sich wieder.“
Seine Stimme klang so dicht hinter ihr, dass sie vor Schreck herumfuhr und Westons Brief in der Hand zerknüllte.
„Sir Mark“, rief sie erschrocken und hörte, wie ihr das Blut in den Ohren rauschte und das Herz bis zum Hals schlug.
„Mark“, sagte er.
„Wie bitte?“
Seine Miene war ernst, er lächelte nicht. „Mark“, wiederholte er ruhig. „Für dich einfach nur Mark“, sagte er.
Auf einmal schien die Sonne greller als zuvor. Zwar waren sie allein, wie es schien, doch die Fenster der Häuser gingen auf den Platz hinaus, die Tür des Wirtshauses stand offen. Jeder konnte sie hier sehen, zusammen.
Ich will Turner, diesen scheinheiligen Idioten, umgehend kompromittiert sehen!
„Geht es dir heute schon besser?“, erkundigte er sich.
Sie könnte ihn ruinieren. Sie musste es gar. Und da kam er, bat sie, ihn vertraulich bei seinem Vornamen zu nennen, und fragte nach ihrem Wohlergehen.
Angeschrien hätte sie ihn am liebsten, ihn vor die Brust gestoßen und ihm gesagt,
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