Geliebte Kurtisane
„würde ich Ihnen jetzt erzählen, dass auch ich nur ein Mann bin wie jeder andere, keineswegs ungewöhnlich, niemand, auf dessen Wort es zu hören gälte. Normalerweise würde ich gestehen, dass ich nicht frei von Heuchelei bin. Aber das kann warten – finden sich unter uns doch schlimmere Heuchler. Nehmen wir nur“, Mark ließ seinen Blick über die langen Reihen junger Männer mit blauen Armbinden wandern, „nehmen wir nur die werten Mitglieder der BMK. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals einem so verlogenen Haufen begegnet zu sein.“
Seinen Worten folgte betretenes Schweigen, als hätten alle Versammelten mit einem Mal das Atmen vergessen.
Mark warf einen grimmigen Blick auf den jungen Tolliver. „Sie maßen sich an, mein Buch in- und auswendig zu kennen, dennoch scheint es, als hätten Sie kein einziges Wort verstanden. Dieser Eindruck drängt sich mir zumindest auf, hat die BMK nicht einmal mein Hauptanliegen begriffen. Lassen Sie mich damit beginnen, aller Welt Ihre Geheimnisse preiszugeben.“
Er machte das Handzeichen, das der junge Tolliver ihm beim Picknick gezeigt hatte. „Von derlei Zeichen ist im Brevier für Gentlemen an keiner Stelle die Rede. Und doch wurde ich eindringlich darauf hingewiesen, es sei ein Warnsignal. Ein Zeichen, mit dem Männer sich darüber verständigen können, ob eine Frau gefährlich sei.“
Tolliver krauste die Nase und warf Mark einen irritierten Blick zu.
„Sinn und Zweck dieser heimlichen Anschuldigungen, dieser verstohlenen Handzeichen scheint mir, es dem unkeusch gewordenen und der Rettung bedürftigen Manne zu ermöglichen, Absolution zu erlangen. Dies geschieht dadurch, dass er fortan den Prinzipien folgt. Eine Frau jedoch, die sich etwas zuschulden hat kommen lassen, die einen Fehler gemacht hat … nun, sie gilt fortan als unrein und wird auf alle Zeiten der guten Gesellschaft verstoßen.“
Einige der jungen Männer sprangen sichtlich entrüstet auf, aber Mark ließ sich nicht beirren.
„Ich gebe nicht Ihnen die Schuld an diesem Missstand“, fuhr er fort. „Wie wollen Sie Anstand lernen, wenn selbst Ihr Pfarrer nichts dabei findet, sich an einer Frau zu vergreifen, solange er es unbemerkt glaubt.“
Jessica sah zu ihm auf und begegnete seinem Blick. Sie lächelte, trotzdem waren ihre Augen noch immer traurig. Der Pfarrer straffte die Schultern und riss sich von ihrem Dekolleté los. Sehr gut.
„Und darum“, fuhr Mark zufrieden fort, „will ich es Ihnen erklären, denn Keuschheit scheint Ihnen allesamt kein Begriff zu sein. Zunächst einmal gibt es keine gefährlichen Frauen. Wenn eine Frau Sie um Sinn und Verstand bringt, dann sind Sie es, der eine Gefahr darstellt – eine Gefahr für sich selbst und fraglos auch für die betreffende Frau. Ich kann einfach nicht glauben, dass auch nur einer von Ihnen mein Buch gelesen hat, wenn Sie nicht einmal die einfachsten Grundlagen begriffen haben.“
Nun riss seine Empörung ihn mit sich fort, trug ihn auf einer Welle gerechten Zorns. Und ausnahmsweise sah er wirklich keine Notwendigkeit, sein Temperament zu zügeln. „Entgegen Ihrer Annahme gibt es keine unkeuschen Frauen, keine lasterhaften Männer.“ Er stützte die Hände aufs Rednerpult. „Und es gibt auch keine Heiligen, was wahrscheinlich niemand von Ihnen hören mag. Denn wenn es nicht die Frau war, die Sie verführt hat, müssen Sie ganz von selbst auf Abwege geraten sein. Und wenn ich kein Heiliger, sondern ein vollkommen gewöhnlicher Mann bin, folgt daraus, dass Keuschheit jedem möglich ist. Es heißt auch, dass Sie alle für Ihre eigenen Fehler verantwortlich sind, dass Sie sich ihnen stellen müssen und nicht jemand anderem die Schuld dafür zuschieben können. Es bedeutet kurzum, dass Sie niemals wieder eine Frau zum Sündenbock Ihrer eigenen Verfehlungen machen können – auch dann nicht, wenn sie jung und schön, wenn sie lebensfroh und intelligent ist.“
Jessica hatte nicht einen Moment den Blick von ihm genommen. Mit großen glänzenden Augen sah sie ihn an – Augen, die ihm indes noch immer unendlich traurig schienen.
„Wenn Sie sich mit geheimen Handzeichen darüber verständigen, ob eine Frau gefährlich ist oder nicht, zeigen Sie keine Stärke. Sie beweisen nur Ihre eigene Schwäche. Welcher Mann versteckt schon gern seine Schwächen hinter einer Frau? Welcher Mann gibt anderen die Schuld, statt selbst die Verantwortung für sein Handeln zu tragen und zuzugeben, dass er fehlbar ist? Und darum … ja, derzeit halte ich
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