Geliebte Kurtisane
würde überleben.
Die Vorhänge in Mr Parrets Salon waren zurückgezogen und boten eine trübe Aussicht auf eine lichtlose Londoner Straße. Vielleicht lag es auch an ihrer Stimmung, dass ihr heute alles seltsam gedämpft schien.
„Oh!“, ertönte es hinter ihr.
Jessica drehte sich um. Ein kleines Mädchen stand an der Tür.
„Sie sind aber eine schöne Dame“, sagte das Kind andächtig.
Vermutlich war es Parrets Tochter. Seine scharfen Züge fanden sich bei ihr in etwas abgeschwächter, zarterer Form. Nigel Parret hatte also nicht gelogen – er hatte wirklich eine Tochter, und eine ganz reizende zudem.
„Nein“, sagte Jessica. „Ich bin keine Dame.“
Das Mädchen sah sie mit großen Augen an und trat näher. „Aber ein Gentleman sind Sie auch nicht! Und keine Dienerin, so sehen Sie nämlich nicht aus.“
Das Mädchen mochte vier Jahre alt sein – etwas älter als Jessicas Schwester Ellen, zu der Zeit, als Jessica ihr Elternhaus verlassen hatte. Auf jeden Fall war das Mädchen nicht alt genug, um die feinen Unterschiede zu kennen, die eine Frau von einer Dame unterschieden.
„Belinda!“, tönte Mr Parrets Stimme vom Korridor her. „Liebes, wo ist deine Gouvernante? Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du meine Besucher nicht belästigen sollst?“
„Miss Horace ist eingeschlafen.“
Nigel Parret kam zur Tür herein und nahm seine Tochter auf den Arm. „Na schön. Dann will ich mal …“
Als er Jessica bemerkte, hielt er inne. „Ah“, sagte er, und alle Freundlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden. „Sie. Ihretwegen musste ich Shepton Mallet verlassen. Ach, was sage ich? Vertrieben wurde ich! Da ist mir ein hübsches Sümmchen durch die Lappen gegangen, das können Sie mir glauben, Sie Reporterin , Sie!“
Vielleicht, dachte Jessica, war sie ja wirklich eine geworden, während der kaum enden wollenden Bahnfahrt – eine Reporterin. Schweigend neigte sie den Kopf und widersprach nicht.
„Wusste ich es“, schnaubte Parret. Er hielt seine Tochter fest in den Armen und wandte sich ein wenig ab, als wolle er Belinda vor ihr schützen. „Sind Sie erschienen, um sich Ihres Erfolgs zu brüsten? Sie haben Ihr Exklusivinterview erhalten. In den Tagen, seit Sir Mark mich verstoßen hat, hatte ich herzlich wenig zu schreiben. Sind Sie jetzt glücklich?“
„Nein, das bin ich nicht“, sagte Jessica. „Und wie der Zufall es will, würde ich Ihnen gern eine Geschichte verkaufen. Einen Teil habe ich bereits geschrieben.“
„Ach, und da kommen Sie auf einmal zu mir?“ Er schnaubte grimmig. „Und warum sollte ich mit Ihnen Geschäfte machen?“
„Weil ich sonst zur Konkurrenz gehe – die zwar nicht Ihren Ruf der Wahrheitsliebe hat, aber …“
„Ja, dann gehen Sie doch! Was kümmert es mich?“
Statt einer Erwiderung löste Jessica die schlichte Kette, die sie um den Hals trug, und legte sie mitsamt des etwas sperrigen Anhängers auf den Stapel ihrer mitgebrachten Papiere.
Mr Parret starrte an, was sie ihm hinhielt.
Es war natürlich Marks Ring. Der dunkle Stein in der Mitte funkelte sie an.
Ganz langsam setzte Parret seine Tochter auf dem Boden ab. „Belinda“, sagte er ruhig, „geh zu deiner Gouvernante.“
„Ich will aber wissen, wer die Dame ist!“
„Geh.“
Er wartete, bis sie verschwunden war. Dann trat er fast andächtig vor und nahm den Ring auf. Er ließ ihn an der Kette baumeln, schwang ihn sacht hin und her. „Sieh an“, sagte er. „Eine der möglichen Erklärungen dafür, was ich in Shepton Mallet beobachten konnte, war … nun, genau das. Ich wagte es nicht, das überhaupt zu denken. Schließlich will ich ja nicht Sir Marks Reputation ruinieren.“
Nein, natürlich nicht. Jessica hatte lange und gründlich überlegt, wie sie nun vorgehen sollte. Ihre Möglichkeiten, an Geld zu gelangen, waren recht überschaubar, und sie würde – sie konnte – sich nicht wieder verkaufen. Aber selbst wenn sie ihren Körper nicht verkaufte, könnte sie immer noch ihren Anstand preisgeben.
Auf mich wirken Sie auf seltsame Weise grundanständig , hatte er einmal zu ihr gesagt. Nun, vielleicht … Wenn das hier alles ausgestanden war, vielleicht könnte sie dann beides haben: Sicherheit und Anstand.
„Ich finde“, sagte Parret und machte es sich in einem Sessel bequem, „Sie sollten mir Ihre Geschichte erzählen.“
Jessica holte tief Luft. „Es begann alles damit“, sagte sie, „dass ich Sir Mark in Shepton Mallet begegnete. Einzig der Grund, ihn zu
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