Geliebte Myriam, geliebte Lydia
indiskretes Gespräch mit Myriam klarerweise beendet, und ich drehte mich zu Lydia hinüber und beugte mich über sie und küßte sie lautlos, aber zärtlich und fragte sie, wie sie geschlafen habe und ob's ihr schon besser gehe. Nein, sondern viel schlechter, gab sie mir zur Antwort. Ja, wieso denn? Sehr einfach: weil sie am Verhungern sei. Ja, wie spät ist es denn? Fünf Uhr war's schon vorbei - und jetzt mußte man in Hinkunft immer dazusagen: fünf Uhr nachmittag oder fünf Uhr morgens, denn für uns gab's ja nicht den geringsten Unterschied zwischen Tag und Nacht. Nun, so veranstaltete ich halt wieder eine Wildtierfütterung, oder sagen wir: eine Wildkätzchenfütterung, und als ich damit fertig war, registrierte ich mit Befriedigung, daß mein Wildkätzchen wieder halbwegs zufrieden schnurrte. Es schnurrte wieder halbwegs zufrieden, aber zur Gänze war seine Zufriedenheit offenbar doch noch nicht wiederhergestellt. Es schnurrte nämlich auf einmal folgendermaßen: 'Schatzilein? Du hast mir noch nicht verraten, was ihr über mich geredet habt! Oder darf ich's nicht wissen?'
'Doch, doch!' versicherte ich ihr leicht bestürzt. 'Freilich darfst du's wissen! Wir haben ja keine Geheimnisse vor dir, gelt, Myriam?'
Und was sagte die liebe Myriam darauf? Sie mag zwar in gewisser Hinsicht naiv und unaufgeklärt und daher unerfahren gewesen sein, aber dumm war sie nicht; sie merkte genau, wie peinlich mir die Frage meines Wildkätzchens war, und warf sich sofort für mich in die Bresche, falls man das so nennen kann. Sie sagte also: 'Ich habe Christian erzählt, warum ich dich so beneide.' Wie ich das hörte, wurde mir schon ganz schwummerlich. Umso mehr staunte ich, wie sie weitersprach: 'Weil du so einen schönen christlichen Namen hast.'
Jetzt war ich baff. Lydia erwiderte: 'Ach so? Ich hab' gar nicht gewußt, daß 'Lydia' ein christlicher Name ist.'
'O ja', erklärte Myriam, 'und zwar ein ganz besonderer: so hieß nämlich die erste europäische Christin.'
'Aha', sagte Lydia. 'Aber 'Myriam' ist doch sicher ein noch bedeutenderer christlicher Name, nicht? Wo er doch nur eine andere Form für 'Maria' ist.'
'Das ist richtig. Aber andererseits ist 'Lydia' ... wie soll ich sagen ... kostbarer als 'Maria' oder 'Myriam', weil er nicht so häufig ist.'
'Naja, vielleicht. Hauptsache, dem Christian gefällt er.' Und indem sie das sagte, lächelte sie süß und warf mir, soweit in dem flackernden Licht der Kerzen, die ich inzwischen angezündet hatte, zu erkennen war, einen unglaublich verliebten Blick zu.
Im weiteren entwickelte sich zwischen Myriam und Lydia ein längerer Plausch, zuerst über christliche Namen und dann übers Christentum im allgemeinen, und was weiß ich, über was sonst noch; ich schaltete nämlich bald ab und ließ meine Gedanken ihre eigenen Wege gehen, und die führten von unserem jetzigen Schlamassel zu den Ereignissen der letzten Nacht und deren Anlaß; und dabei fiel mir endlich wieder mein neuer Papyrus ein, und daß ich noch überhaupt keine Gelegenheit gehabt hatte, den in aller Ruhe zu studieren. Und so ließ ich jetzt die zwei nach Herzenslust quatschen, holte den Papyrus aus meiner Tasche, machte mir's so bequem, wie's unter den Umständen möglich war, und versenkte mich in dessen Studium. Und das war jetzt ein echt erhebendes Gefühl, und je länger ich ihn studierte, umso begeisterter wurde ich und umso mehr kam ich zur Überzeugung, daß sich das alles inklusive Schlamassel absolut gelohnt hatte. Ich entdeckte nämlich, daß er nicht nur weit umfangreicher ist als mein erster Papyrus - obwohl, wie gesagt, von einem 'Papyrusbuch' oder '-codex' tatsächlich nicht die Rede sein konnte -, sondern vor allem inhaltlich weit interessanter. Und ich freute mich schon auf den Zeitpunkt, wo ich wieder daheim sein würde - wann immer das sein würde - und den Papyrus papyrologisch untersuchen und publizieren würde. Und dabei vergaß ich vollkommen die keineswegs gleichermaßen erfreuliche Gegenwart und sogar meine zwei Damen und merkte überhaupt nicht, wie die ihre Plauderei beendeten und sich wieder Morpheus' Armen überließen. Erst als ich meine erste Durchsicht beendet hatte, und das war nach einer guten Stunde, wenn nicht noch später, wurde ich auf das herrschende Schweigen rund um mich aufmerksam, sah mich etwas erstaunt und amüsiert um und registrierte, daß die beiden schon wieder in tiefem Schlummer lagen. Aber ich vergönnte es ihnen natürlich und war sogar froh, daß sie so viel
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