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Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Titel: Geliebte Myriam, geliebte Lydia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Plepelits
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tatsächlich so in ihrer Schule gelernt haben.) 'Und außerdem ist das wahrscheinlich eine längere Geschichte.'
    Oho, eine längere Geschichte? dachte ich mit einer gewissen lustvollen Erregung und setzte mich mit meinen zwei Süßen zusammen auf unsere Lagerstatt. Eine gemütliche Sitzecke oder zumindest Stühle - das fehlt uns hier noch zu unserem Glück! Aber ob die frühchristlichen Eremiten in ihrer Hotelsuite da drüben einen solchen Komfort genossen haben? Eher nicht, denn was die suchten, war ja nicht nur die Einsamkeit, sondern vor allem die Askese, das heißt, der Verzicht auf alle oder möglichst viele Annehmlichkeiten des Lebens. Also sind wir halt unter die Asketen gegangen! Das heißt, nicht ganz; irgendwas mache ich, glaube ich, doch nicht ganz richtig: ob sich die echten Asketen hier ebenfalls gleich mit zwei Freundinnen eingeschlossen haben? Das wage ich doch zu bezweifeln. Andererseits: wer weiß?
    Während ich noch solchen Gedanken nachhing, brach plötzlich Myriam ihr Schweigen und begann mit ihrer angekündigten längeren Geschichte, indem sie mich persönlich anredete: 'Du wirst dich erinnern, Christian, daß ich dir erzählt habe, daß ich ursprünglich in Assiut beheimatet war ...'
    'O ja, daran erinnere ich mich sehr gut!' rief ich eifrig. 'Das war kurz, bevor wir Assiut erreichten und dann zuerst den Riesenstau hatten und anschließend umgeleitet wurden, weil die Terroristen ...' Ich verstummte abrupt, da mir meine Begeisterung mit einemmal etwas unangebracht erschien.
    '... und daß meine Familie nach Kairo übersiedelte, als ich elf Jahre alt war.'
    'Genau.'
    'Was ich dir damals nicht erzählt habe und normalerweise auch nie einem Menschen erzählt haben würde, das betrifft den Grund der Übersiedlung oder vielmehr deren Gründe. Mein Vater ist nämlich von Beruf Journalist und war in Assiut Leiter der Zweigstelle der Tageszeitung Al-Achrám. Er ließ sich damals an eine untergeordnete Dienststelle der Kairoer Zentrale versetzen. Unsere Übersiedlung fand übrigens kurz nach der Ermordung von Präsident Sadat statt - das hatte ich mir nämlich gut gemerkt und ich kann mich noch sehr gut an die furchtbare Aufregung und Empörung erinnern, in der sich damals meine Eltern und vor allem mein Vater befand; er hatte deshalb auch sofort irrsinnig viel zu tun.
    Diese Übersiedlung und den damit verbundenen beruflichen Abstieg würde jedoch mein Vater niemals auf sich genommen haben, hätte er sich nicht durch die schwere Erkrankung meiner Mutter dazu veranlaßt gesehen - und außerdem durch eine ... wie soll ich sagen ... peinliche Geschichte. Und die Krankheit meiner Mutter war wahrscheinlich durch eben diese peinliche Geschichte ausgelöst worden.
    Assiut ist nämlich zwar eine größere Stadt, aber das gesellschaftliche Leben läuft dort nach ziemlich den gleichen Gesetzmäßigkeiten ab wie im kleinsten Bauerndorf. Folgendes war geschehen: unsere Familie war in Assiut, so erzählt es jedenfalls mein Vater immer wieder wehmütig und zugleich vorwurfsvoll, relativ hoch angesehen. Zu den oberen Zehntausend, oder wie man die nennt, zählten wir zwar nicht, spielten aber im gesellschaftlichen Leben von Assiut dennoch eine gewisse Rolle.
    Und dann war's mit dieser angesehenen Stellung plötzlich mit einem Schlag vorbei. Was war passiert?
    Schuld war - fast hätte ich gesagt: natürlich - ich. Ich hatte nämlich meine Ehre verloren, und alle, alle wußten davon.
    Ich hatte unauslöschliche Schande über meine ganze Familie gebracht; auf immer und ewig würden wir als Ausgestoßene leben müssen; man würde uns nie wieder einladen, man würde uns nie wieder besuchen, auf der Straße würde man uns nie wieder grüßen und unseren Gruß nie wieder erwidern; die Jungen würden ungestraft mit Steinen nach uns werfen dürfen; und so weiter ...'
    'Na, furchtbar!' entfuhr's mir unwillkürlich, und Lydia warf in ziemlicher Erregung ein: 'Entschuldige, Myriam, aber wie alt warst du damals, hast du gesagt?'
    'Elf Jahre zum Zeitpunkt der Übersiedlung 1981. Als dieser Skandal ausbrach, war ich noch nicht einmal zehn.'
    'Na eben!' rief Lydia erregt aus. 'Was soll das! Wie willst du mit nicht einmal zehn Jahren ewige Schande über deine gesamte Familie bringen? Das verstehe, wer will! Ich nicht!'
    'Nur Geduld, liebste Lydia!' flötete Myriam und machte dazu eine ihrer so überaus anmutigen pharaonischen Handbewegungen, die mich immer so faszinierten. 'Du wirst es in Kürze verstehen ... Ich habe nur einen Bruder.

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