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Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Titel: Geliebte Myriam, geliebte Lydia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Plepelits
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renommieren.
    Und auch das hätte eigentlich nichts ausmachen dürfen, denn soviel ich weiß, gehört es zur Ehre der Jünglinge, anvertraute Geheimnisse nicht an solche, die außerhalb des Freundeskreises stehen, auszuplaudern.
    Aber in unserem Fall muß es irgendwo eine undichte Stelle gegeben haben; jedenfalls kam der Tag, an dem es plötzlich die ganze Stadt wußte. Na, das war ein Aufruhr, kann ich euch sagen! Und die Schläge, die ich von meinen Eltern einzustecken hatte ...'
    'Du?' warf Lydia in höchster Empörung ein. 'Nicht dein Bruder?'
    'Du sagst es: ich und nicht mein Bruder. Es trat genau das ein, was ich schon immer befürchtet hatte, nämlich, daß ich selbst die Bestrafte sein würde.'
    'Aber das versteh' ich nicht!' rief Lydia. 'Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit? Es hat dich doch dein Bruder verführt, nicht du ihn! Du sagst selber, er ist sieben Jahre älter als du! Und schließlich hat er dich entjungfert, nicht du ihn - oder?'
    'Du hast vollkommen recht!' erwiderte Myriam.
    'Eben! Wer hat also Schande über deine Familie gebracht, du oder dein Bruder?'
    'In den Augen meiner Familie und der Gesellschaft von Assiut: ich!'
    Jetzt brachte Lydia überhaupt kein Wort mehr heraus und schüttelte nur heftig den Kopf und machte dabei ein fassungsloses Gesicht.
    'Liebste Lydia', sagte schließlich Myriam, 'das ist eben so bei uns: schuld ist stets die Frau, auch wenn sie noch ein kleines Kind ist. Sie allein trägt den Schaden davon: sie verliert ihre Ehre und ihre Jungfräulichkeit. Der Mann wird grundsätzlich nicht bestraft, einfach, weil er der Mann ist, und hat grundsätzlich nichts zu verlieren.
    Und den Rest kennt ihr, glaub' ich, schon: meine Mutter erkrankte damals schwer - angeblich wegen der Aufregungen und der Schande, die ich über die Familie gebracht hatte, und ihre Krankheit konnte nur in Kairo behandelt werden.
    Und deshalb, und zugleich, um dem ewigen Ehrverlust in Assiut zu entgehen, übersiedelten wir eben im Oktober 1981 nach Kairo.
    Und hier erwies es sich, daß ich doch einen ungewöhnlich lieben und humanen Vater habe.
    Ein gewöhnlicher Vater würde mich sehr wahrscheinlich getötet haben, denn diese ewige Schande, in die ich meine Familie gestürzt hatte, kann normalerweise nur mit Blut getilgt werden, wie man das im Arabischen nennt.
    Mein Vater hingegen siedelte mit der ganzen Familie nach Kairo über, nahm einen gewaltigen beruflichen Abstieg in Kauf, machte Überstunden und arbeitete sich überhaupt fast zu Tode, um den Frauenarzt bezahlen zu können, der mir meine Jungfräulichkeit wiederherstellen sollte - natürlich auch für die Behandlung meiner Mutter; aber was mich betrifft, so hätte er es bestimmt auch wesentlich billiger haben können, zumal ja das Leben eines Mädchens im allgemeinen nichts wert ist ...'
    'Was sagst du da?' rief Lydia entsetzt dazwischen. 'Nichts wert? Das Leben eines Mädchens ist nichts wert?'
    'Ja, leider', betonte Myriam, 'es ist nicht zu leugnen, daß eine Tochter bei uns einen viel geringeren Stellenwert besitzt als ein Sohn. Und eigentlich ist das noch viel zu milde ausgedrückt; es müßte heißen: eine Tochter besitzt bei uns im allgemeinen überhaupt keinen Stellenwert.
    Man merkt das schon bei der Geburt: die Geburt eines Sohnes wird von allen mit Jubel und Freude begrüßt. Einer Tochter wird bei der Geburt dagegen stets ein ausgesprochen frostiger Empfang zuteil, ihr wird stets das Gefühl vermittelt, nicht willkommen zu sein auf dieser Welt. Oft bleibt es nicht bei einem frostigen Empfang, sondern es herrscht Trauer und Niedergeschlagenheit.
    Manchmal wird die Mutter dafür, daß sie eine Tochter zur Welt gebracht hat, sogar bestraft: mit Beschimpfungen, mit Schlägen oder auch mit der Scheidung.
    Als Kind, noch in Assiut, habe ich miterlebt, wie eine meiner Tanten von ihrem liebenden Ehemann mit schallenden Ohrfeigen traktiert wurde, weil sie es gewagt hatte, zum dritten Mal eine Tochter zur Welt zu bringen. Ich habe gehört, wie er schrie, er werde sie verstoßen, wenn sie noch einmal ein weibliches Kind bekomme, statt ihm einen Sohn zu schenken. Er haßte dieses Kind so sehr, daß er seine Frau mit ausgesuchten Grobheiten bedachte, wenn sie es betreute, ja, selbst wenn sie es nur stillte. Die Kleine starb vor Ablauf von 40 Tagen, ich weiß nicht, ob durch mangelnde Pflege, oder ob ihre Mutter es erstickte, damit, wie man so sagt, er sein Recht und sie ihre Ruhe habe.'
    'Hu, das ist ja furchtbar!' murmelte Lydia.
    Aber Myriam fuhr,

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