Geliebte Myriam, geliebte Lydia
oder wer auch immer, eine Freude gemacht hat, indem es uns zuerst lang genug windelweich gehauen und dann wieder aufgehört hat, was?“
„Ja, genau!“
„Mhm. War das aber nicht gemein vom Schicksal, zu einem Zeitpunkt, wo das Ende sozusagen schon in Sicht war, noch einmal so auf die arme Lydia einzudreschen? Noch dazu gerade wegen ihrer Vorfreude auf das Ende? Na, Schluß für heute! Wir wollen das Schicksal nicht noch weiter herausfordern, ja?“
Und ungeachtet der Proteste seiner Freunde erhebt sich Giggerle und treibt sie an den mütterlichen Herd. „Wie geht das Sprichwort? Ein leerer Bauch erzählt nicht gern. Oder so ähnlich. Fortsetzung folgt.“
Donnerstag, 6. Juni 1996
1. Teil
Ich bin herabgestiegen, daß ich sie errette von der Ägypter Hand
und aus diesem Land hinausführe in ein schönes, weites Land,
ein Land, in dem Milch und Honig fließt
(EXODUS)
„Ja, also, wie gesagt“, beginnt Giggerle ohne weitere Einleitung, „ausgerechnet wegen ihrer Vorfreude auf das bereits absehbare Ende der Prügelei durch das Schicksal drosch dieses noch einmal so arg auf unsere arme Lydia ein! Ich hab' ja schon erwähnt, daß der Parkplatz mit dem einen vereinsamten Bus bereits tief unter uns in Sicht war, und indem wir den steilen Weg weiterhin abstiegen, gingen wir direkt auf ihn zu. Lydia paßte nun nach ihrem bedauerlichen Fehltritt offensichtlich doppelt und dreifach auf, um die Partie ja nicht noch einmal aufzuhalten, und hatte trotz dem Schock und trotz ihrer Verletzung immer noch einen bemerkenswert sicheren Schritt; und sie mußte ja nach wie vor allein gehen.
Das war also die Zeit der Vorfreude. Und jetzt dauerte es wirklich nicht mehr lang, bis das Schicksal Schluß machte mit der Prügelei und die Zeit der Freude begann. Wer beschreibt also unsere Gefühle, wie wir den Fuß des Berges endlich ohne weitere Zwischenfälle erreicht hatten und uns nur noch wenige Meter von der sogenannten Zivilisation, das heißt in unserem Fall: vom Parkplatz, trennten? Und dann betraten wir den Parkplatz, und mir fiel auf, daß sich Myriam sofort aus meinem Griff löste, und wir marschierten, oder wenn ihr wollt: wankten, schnurstracks auf den Bus zu, der da immer noch einsam und verlassen herumstand und, wie wir nur zu bald rochen, hörten und sahen, unentwegt vor sich hin stank, tuckerte und rauchte. Er wartete offensichtlich wirklich auf die letzten Touristen des heutigen Tages - oder hatte ihn das Schicksal extra für uns herbestellt, um uns eine zusätzliche Freude zu machen? Naja, wie auch immer - die Tür war weit offen, und der Chauffeur hockte hinter dem Lenkrad und machte, soweit aus der Ferne zu erkennen war, zuerst ein mürrisches und gelangweiltes Gesicht und dann, als er sichtlich auf uns aufmerksam wurde und uns auf seinen Bus zuwanken sah, ein mürrisches und neugieriges Gesicht. Zu meiner Überraschung flüsterte mir Myriam zu: 'Sprich du!', und als ich erstaunt fragte, wieso, sagte sie nur lakonisch: 'Ich mag nicht!' Ich überlegte noch kurz, ob sie einfach zu erschöpft war oder ob ich reden sollte, weil ich eben ein Mann bin, und dann hatten wir den Bus auch schon erreicht, und ich trat an den Einstieg heran, nahm meinen ganzen Mut zusammen und sagte in meinem schönsten Englisch: 'Excuse me, please, could you give us a lift?'
Der Chauffeur starrte uns mit offenem Mund wie ein Weltwunder oder wie Wesen von einem fremden Planeten an und sagte kein Wort. Drum wiederholte ich meine Frage oder vielmehr Bitte: 'I mean, would you be so kind as to give us a lift?'
Wieder keinerlei Reaktion. Er starrte uns nur weiterhin mit offenem Mund und großen Augen an und, so kam's mir vor, ganz besonders meine zwei Süßen. Daher sagte ich: 'Do you mind if we get in, sir?', und als er nach wie vor keine Antwort gab und auch keine sonstige Reaktion zeigte, stieg ich ganz einfach ein und lächelte ihn dabei so freundlich und sanftmütig an, wie ich nur konnte. Der Herr Chauffeur tat noch immer nichts dergleichen und würdigte mich nicht einmal eines Blickes, sondern glotzte nur mit großen, ausdruckslosen Augen meine zwei Süßen an. Ich drehte mich um, rief ihnen zu: 'Freundlich lächeln, bitte!', bückte mich zu ihnen hinunter und streckte meine Hand hinaus, und so zog ich sie der Reihe nach herein, erst Lydia und dann Myriam. Der Herr Chauffeur gab nach wie vor keinen Ton von sich, und als ich mich wieder zu ihm umdrehte, merkte ich, daß er zwar unverkennbar die Nase rümpfte, aber trotzdem Lydia und
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