Geliebte Myriam, geliebte Lydia
Situation, in der ich mich befinde, reiße mich zusammen, werfe ihr noch einen dankbaren und zugleich, naja, höchstwahrscheinlich verliebten Blick zu, schnappe mir dann das Mikrophon, schalte es ein, räuspere mich ein paarmal und beginne dann.
Ich bedanke mich als erstes bei 'unserer charmanten neuen Führerin' für die Großzügigkeit, mit der sie mir das Wort erteile, und komme sodann auf die römischen Wasserleitungen zu sprechen. Diese seien ohne Zweifel eines der größten Ruhmesblätter der römischen Kultur, und zwar keineswegs nur in ihren brückenförmig oberirdisch geführten Abschnitten, sondern in ihrer Gesamtheit, also inklusive der unterirdisch geführten Abschnitte. Wieso ich auf einmal dieses Thema anschneide? Weil einer der Kuratoren der Wasserversorgung Roms, Frontinus, ein Buch 'Über die Wasserleitungen der Stadt Rom' verfaßt habe. Und in diesem Buch lese man folgenden bemerkenswerten Satz: 'Man vergleiche mit den so zahlreichen und lebensnotwendigen Wasserleitungen die Pyramiden, die doch völlig nutzlos sind, oder auch die nutzlosen, aber überall gerühmten Bauten der Griechen.'
Dieser Satz eines Römers aus dem 1. Jahrhundert nach Christus könnte anstößig oder sogar naiv erscheinen, aber er offenbare uns das ureigenste Wesen der römischen Baukunst, das diese von jeder anderen Baukunst unterscheide, ausgenommen die, die sich seit dem 19. Jahrhundert im industrialisierten Europa entwickelt habe. Es sei erstaunlich festzustellen, daß die Architektur zu fast keiner Zeit und in fast keiner Kultur den Zwecken der einfachen Menschen gedient habe: die wichtigsten Bauten in den fernöstlichen Kulturkreisen seien entweder Tempel für die Götter oder Paläste für die Herrscher; die prächtigen Bauwerke des präkolumbischen Amerika seien ausschließlich zu religiösen Zwecken errichtet worden, während ihre Erbauer in armseligen Laubhütten gehaust hätten; das christliche Mittelalter lebe in seinen Kirchen, das islamische Mittelalter in seinen Moscheen weiter. Europa habe in der frühen Neuzeit seine besten Kräfte dem Bau von Schlössern und Palästen gewidmet. Die alten Ägypter hätten, wie wir soeben gehört hätten, sogar nur für ihre Götter und Toten feste Gebäude errichtet. Auch der Geist Griechenlands, der die Menschheit zur Eroberung der realen Welt geführt habe, verkörpere sich vor allem in seinen Göttertempeln - aber immerhin nicht mehr ausschließlich; man denke zum Beispiel an seine Theaterbauten und Sportanlagen. Und so sei Griechenland in dieser Hinsicht zum Vorläufer Roms geworden. Rom habe nämlich seine Götter, Herrscher und Toten zwar durchaus nicht vergessen, sei aber in erster Linie bemüht gewesen, den einfachen Menschen materielle Wohlfahrt und kollektive Annehmlichkeiten zu sichern, und das sei ein ganz und gar modernes Bemühen gewesen. Und so sei es kein Zufall, daß in Ausgrabungen aus der Römerzeit die bei weitem häufigsten Monumentalbauten die sogenannten Thermen seien, was man am zutreffendsten mit 'Badepalästen' umschreiben könne; und die seien fürs Volk dagewesen.
Und so werde es verständlich, wenn ein Römer ein solches Urteil wie das angeführte über die im übrigen hochberühmten und vielbewunderten Pyramiden abgegeben habe. In unserem Jahrhundert habe Chruschtschow bei der Einweihung des Staudamms von Assuan fast wörtlich den Ausspruch des römischen Schriftstellers wiederholt, wenn ihm das auch sicherlich nicht bewußt gewesen sei.
Nachdem ich mich noch ein wenig über Chruschtschow, Nasser und den Staudamm von Assuan verbreitet und erwähnt hatte, daß wir den ja in Kürze besichtigen und über seine tiefgreifenden Folgen zu sprechen haben würden, übergab ich Wort und Mikrophon mit bestem Dank wieder an Myriam und wollte mich schon auf meinen gewohnten Platz neben Götzi zurückziehen. Aber sie nickte anerkennend, hielt mich am Ellbogen zurück und erklärte, ich solle nur sitzen bleiben, damit ich, wenn ich zu ihrem Vortrag irgendwas zu ergänzen wisse, das unverzüglich in die Tat umsetzen könne. Na, das ließ ich mir nicht zweimal sagen!
Nun wurde aber unsere Aufmerksamkeit zunehmend von dem, was draußen zu sehen war, abgelenkt. Und was war draußen zu sehen? Nun, in einem hinreißend schönen Palmenhain war ein großes Dorf in Sicht gekommen, und je näher wir diesem kamen, umso spannender wurde es, aus dem Fenster zu schauen. Aber das bei weitem Spannendste war folgendes: zwischen Straße und Dorf verlief ein Fluß mit
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