Geliebte Myriam, geliebte Lydia
zwar ist hier natürlich das griechische Theben gemeint, nicht die gleichnamige Stadt in Oberägypten, die wir in Kürze besuchen werden. Dort hockte sie also und gab jedem, der vorbeikam, ein Rätsel auf, und wenn er es nicht lösen konnte, verschlang sie ihn. Das Rätsel lautete: Es gibt auf Erden ein Geschöpf, das abwechselnd zwei und vier und drei Beine hat. Von allen Wesen, die sich auf der Erde oder durch die Luft oder im Wasser bewegen, ist es das einzige, das seine Natur verändert, und dann, wenn es sich auf den meisten Beinen bewegt, ist die Schnelligkeit seiner Glieder am geringsten. Nun, keiner konnte das Rätsel lösen, alle wurden sie von der Sphinx verschlungen. Erst Ödipus kam dahinter; er antwortete: Vom Menschen hast du gesprochen, denn dieser ist zuerst vierbeinig, solange er sich auf allen vieren fortbewegt; im Alter aber stützt er sich auf einen Stock als ein drittes Bein. Daraufhin stürzte sich die Sphinx in einen Abgrund, und Theben war von dieser Plage befreit.
Bestimmt ist Ihnen auch bekannt, wie's weitergeht: zum Dank erhielt Ödipus die Königswürde in Theben und die Hand der verwitweten Königin, die ihm vier Kinder schenkte - nein, nicht alle auf einmal, sondern hintereinander; so macht's bekanntlich auch viel mehr Spaß. Naja. Nach langen Jahren brach nun in Theben die Pest aus, und man wandte sich an das Orakel in Delphi um Rat und bekam den Auftrag, den Mörder des früheren Königs auszuforschen und zu bestrafen. In der Folge enthüllte die von Ödipus geleitete Untersuchung, daß er selbst seinen Vorgänger getötet hatte, und darüber hinaus, daß dieser sein eigener Vater gewesen war und er seine eigene Mutter geheiratet hatte. Daraufhin erhängte sich diese, und Ödipus stach sich die Augen aus und wurde von seinen Söhnen aus Theben vertrieben.
Um aber noch einmal auf die Sphinx zurückzukommen: dieses Wort hat eine sehr nette Bedeutung, nämlich „Würgerin“. Der ursprüngliche Name war, nebenbei bemerkt, Phix, und höchstwahrscheinlich hat sich daraus die Form Sphinx entwickelt, um dem Namen einen diesem Ungeheuer angemessenen Sinn zu geben.
So viel also zur griechischen Sphinx, die quasi von Natur aus weiblichen Geschlechts ist. Da nun diese berühmteste ägyptische Sphinx hier vor uns einen Männerkopf hat, bestehen viele, um zu zeigen, daß sie es wissen, darauf, daß man „der Sphinx“ zu sagen habe. Aber das ist in meinen Augen unnötig; es ist ein reiner Übereifer. Es sagt ja auch keiner „der Statue“ oder „der Skulptur“, nur weil Ramses der Zweite oder Karl der Große dargestellt ist. Ebenso wie „Statue“ oder „Skulptur“ ist eben auch „Sphinx“ ein Gattungsname. Und wer auf dem Geschlecht besteht, der kommt in Ägypten sowieso ins Schwitzen. Es gibt ja genügend ägyptische Sphinxe, oder, wie's korrekt heißt, Sphingen mit Frauenköpfen, ja sogar mit Schafsköpfen - werden wir bestimmt noch zur Genüge sehen. Übrigens entstand der weibliche Typus erst unter Hatschepsut, der ersten Frau auf dem Pharaonenthron. Wahrscheinlich hat diese Darstellung die frühen Griechen der mykenischen Zeit beeinflußt. Diese unterhielten nämlich gerade während der Hatschepsutzeit rege Handelsbeziehungen zu Ägypten und haben möglicherweise damals das Motiv der Sphinx in ihrer weiblichen Form übernommen.
Ja, das wär's. Danke schön!'
Ich endete und übergab mit einer symbolischen Geste das Wort wieder an Myriam. Diese lächelte sichtlich erleichtert, und unsere Leute - ja, die applaudierten heftig. Nur nachher, als dann der Applaus verklungen war, bekam ich noch eine kleine Rüge: eine der älteren Damen rügte mich nämlich für die Bemerkung, vier Kinder hintereinander zu kriegen mache viel mehr Spaß als alle auf einmal; das sei wieder einmal typisch männlich gedacht. Daraus entwickelte sich im folgenden eine ganz schön lebhafte Debatte zwischen ihr und einer weiteren älteren Dame auf der einen Seite und Klein-Barbaras Mutter und Lydia und dazu auch noch Götzi auf der anderen Seite zum Thema: Wie berechtigt ist diese Rüge an unserem Herrn Reiseleiter? Entspringt seine Äußerung nur einem beklagenswerten Vorurteil der bösen Männer oder bringt das Kinderkriegen den Frauen außer Unannehmlichkeiten und Schmerzen auch noch irgendwelche erfreulicheren Dinge? Und die anderen hörten aufmerksam und amüsiert zu; nur unsere Kinderlein fanden ein auf der Straße hinter uns vorbeiwatschelndes Kamel viel spannender als diese blöden Diskussionen der
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