Geliebte Rebellin
Das Teetablett habe ich gestern versetzt. Jetzt ist nichts mehr übrig.«
In dem Jahr seit dem vorzeitigen Tod ihrer Mutter, die bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war, hatte Winterbourne die wertvollsten Stücke aus der Sammlung des Familienschmucks der Arkendales und die meisten größeren Gegenstände aus Silber verkauft, um seine wachsenden Spielschulden zu bezahlen.
Als sie begriffen hatte, was hier geschah, hatte Charlotte heimlich diverse kleine Ringe und Broschen und einen Anhänger an sich gebracht. Auch Teile des silbernen Teeservices hatte sie zur Seite geschafft, und im Lauf der letzten Monate hatte sie diese Gegenstände unauffällig verpfändet.
Winterbourne kam meist in angetrunkenem Zustand nach Hause, so dass er noch nicht einmal merkte, wie viele Wertgegenstände aus dem Haushalt verschwunden waren. Wenn ihm gelegentlich doch auffiel, dass etwas fehlte, teilte Charlotte ihm mit, er persönlich hätte die betreffenden Gegenstände im Suff versetzt.
Ariel blickte auf. »Glaubst du, dass es uns in Yorkshire gefallen wird?«
»Es wird sehr schön dort sein. Wir werden uns ein kleines Häuschen suchen und es mieten.«
»Aber wovon sollen wir leben?« Sogar im zarten Alter von vierzehn Jahren hatte Ariel bereits eine erstaunlich praktische Art. »Das Geld, das du für Mamas Sachen bekommen hast, wird nicht lange reichen.«
Charlotte umarmte sie. »Mach dir bitte keine Sorgen. Mir wird schon etwas einfallen, um uns beide durchzubringen.«
Ariel zog die Stirn in Falten. »Du wirst doch nicht etwa gezwungen sein, dich als Gouvernante zu verdingen? Du weißt doch selbst, wie übel die Damen dran sind, die diese Laufbahn einschlagen. Niemand bezahlt sie besonders gut, und oft werden sie schlecht behandelt. Und wenn du dich von jemandem in seine Dienste nehmen lässt, kann ich wahrscheinlich nicht mit dir dort einziehen.«
»Du kannst ganz sicher sein, dass ich eine andere Möglichkeit finden werde, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen«, versicherte ihr Charlotte.
Es war allgemein bekannt, dass das Los einer Gouvernante nicht gerade erfreulich war. Zu den niedrigen Löhnen und der demütigenden Behandlung kamen noch die Männer des jeweiligen Haushalts dazu, die in Gouvernanten eine leichte Beute sahen.
Es musste eine andere Möglichkeit geben, wie sie sich durchschlagen konnten, sagte sich Charlotte.
Aber schon am nächsten Morgen hatte sich ihre Situation grundlegend verändert.
Lord Winterbourne war mit aufgeschlitzter Kehle aus der Themse gefischt worden, und man ging davon aus, dass er einem Wegelagerer zum Opfer gefallen war.
Es gab jetzt keinen Grund mehr, nach Yorkshire zu fliehen, aber es bestand noch immer die Notwendigkeit, sich etwas zu suchen, womit sie ihren Unterhalt finanzieren konnten. Daher war es unbedingt erforderlich, dass Charlotte einen Beruf fand.
Sie nahm die Neuigkeiten über Winterbournes Tod mit großer Erleichterung auf. Aber sie wusste auch, dass sie niemals das Ungeheuer mit der faszinierend schönen Stimme vergessen würde, dem sie im Flur begegnet war.
Mitternacht
An der italienischen Küste, zwei Jahre später
»Dann hast du dich also doch noch entschlossen, mich reinzulegen. Du willst mich verraten.« Morgen Judd stand in der Tür des alten steinernen Verlieses, das ihm als Laboratorium diente. »Was für ein Jammer. Dabei haben wir beide doch soviel miteinander gemeinsam, du und ich, St. Ives. Wir hätten ein Bündnis schmieden können, das uns beiden zu unerhörtem Reichtum und enormer Macht verholfen hätte. Welche Vergeudung angesichts dieser glorreichen Aussichten. Aber andererseits glaubst du ja nicht an die Macht des Schicksals, stimmt's?«
Baxter St. Ives' Finger umklammerten das Notizbuch, das er gerade entdeckt hatte. Die Angaben, die darin standen, reichten aus, um Morgan zu vernichten. Er drehte sich zu ihm um.
Frauen waren von Judds Aussehen fasziniert. Sein schwarzes Haar war von Natur aus gelockt und verlieh ihm das lässig elegante Aussehen der romantischen Dichter, die zur Zeit groß in Mode waren. Es umrahmte eine hohe, intelligente Stirn und Augen, die das undenkbare Blau von Gletschereis aufwiesen.
Morgans Stimme hätte Luzifer persönlich gehören können. Es war die Stimme eines Mannes, der in Oxford im Chor gesungen, gebannten Zuhörern Gedichte vorgelesen und Damen der besseren Gesellschaft in sein Bett gelockt hatte. Es war eine volltönende dunkle Stimme, die einen mitriss, eine Stimme, in der subtile Zweideutigkeiten und
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