Geliebte Schwindlerin
die dort herrschende Hitze und sprach von der bedeutenden Position seines Schwagers in Indien, der unmittelbar dem Vizekönig unterstand.
„Indien würde ich gern einmal besuchen“, schwärmte Minella. „Ich habe mich ziemlich gründlich mit dem Hinduismus und dem Buddhismus befaßt und finde diese Religionen faszinierend. Trotzdem werden sie einem viel nähergebracht, wenn man ihre Tempel besuchen und mit den Leuten reden kann.“
„Wirklich ungewöhnlich, daß Sie sich für so etwas interessieren“, stellte der Graf fest.
„Wieso?“ fragte sie ihn. „In England gibt es nur Christen, aber überall in der Welt gibt es andere Religionen, die die Gläubigen zu besseren und edleren Menschen machen wollen, und das ist wichtiger als alle Dogmen.“
Solche Gespräche hatte sie oft mit ihrer Mutter geführt, die an diesen Themen sehr interessiert gewesen war. Da sie aus dem Fenster sah, während sie sprach, entging ihr der ungläubige Ausdruck in den Augen des Grafen.
Der Zug war eines dieser neueren Modelle, die mit einem Gang versehen waren. Als es Zeit zum Lunch war, brachte der Kammerdiener ihnen einen Picknickkorb, den sie vom Schloß mitgenommen hatten.
Der Graf nutzte die Gelegenheit, den Mann vorzustellen. „Du hast Hayes wohl noch nicht kennengelernt. Er ist erst einige Monate bei mir.“
Minella lächelte den Kammerdiener, der sich vor ihr verbeugte, freundlich an.
„Da Mylady keine Kammerzofe dabei hat, Hayes, hoffe ich, daß Sie ihr genauso umsichtig dienen werden wie mir.“
„Es wird mir eine Ehre sein, Euer Lordschaft“, erwiderte Hayes.
Er stellte einen Tisch auf und servierte ihnen einen köstlichen kalten Imbiß. Sie nippte dem Grafen zuliebe sogar an ihrem Champagnerglas, obwohl sie Limonade bevorzugte.
Als sie wieder allein im Abteil waren, sagte Minella mit leiser Verwunderung: „Ich glaube, Hayes hält mich tatsächlich für Ihre Frau.“
„So habe ich es geplant“, erwiderte der Graf. „Da er keine Gelegenheit hatte, mit jemandem vom Schloß zu sprechen, muß er glauben, was ich ihm einrede.“
Minella fühlte sich ziemlich müde und erschöpft, als sie sich an Bord des Schlachtschiffes begaben, das im Hafen auf sie wartete.
Sie wurden vom Kapitän begrüßt und den Schiffsoffizieren vorgestellt.
„Da ich sofort in See stechen möchte, Mylord“, sagte der Kapitän, „wollen Sie und Mylady sich sicher in Ihre Kabine zurückziehen.“
„Danke, Käpt’n“, erwiderte der Graf. „Wir sind in der Tat rechtschaffen müde und freuen uns auf eine ruhige Nacht, bevor wir das unruhige Gewässer der Bucht von Biskaya erreichen.“
Der Kapitän lachte. „In den letzten Tagen war das Meer ruhig, und wir hoffen, daß es sich weiter von seiner besten Seite zeigt.“
Auf dem Weg nach unten fuhr er fort: „Hoffentlich finden Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit an, Mylord. Ich habe Ihnen meine Kabine zur Verfügung gestellt. Unser Schiff ist ziemlich überfüllt. Wir haben Offiziere und Mannschaften an Bord, die bei Omdurman Gefallene ersetzen sollen, außerdem zusätzliche Truppen, die vermuten lassen, daß General Kitchener einen weiteren Feldzug plant.“
„Hoffentlich nicht!“ rief Minella aus, doch die beiden Männer sprachen mit soviel Begeisterung über die triumphalen Siege des Generals, daß sie ihren Einwurf offenbar gar nicht mitbekommen hatten.
Sie begaben sich zum Achterschiff, wo sich die Kapitänskabine befand. Ein Baderaum schloß sich an, den Minella als angenehmen Luxus empfand.
Der Salon auf der anderen Seite der Schlafkabine war mit einem langen Tisch und drei im Boden verschraubten Sesseln ausgestattet, damit sie bei Schwankungen des Schiffes nicht hin und her rutschten.
Während sie den Schiffsoffizieren vorgestellt worden waren, hatte man bereits ihr Gepäck nach unten gebracht. Der Kammerdiener des Grafen war beim Auspacken des Koffers, der nach Mrs. Harlows Angaben Minellas Nachtzeug enthielt.
„Wenn Sie etwas brauchen, Mylord“, sagte der Kapitän, „soll Ihr Kammerdiener sich an einen der Stewards wenden, der Ihren Wunsch sofort erfüllen wird.“
„Ich danke Ihnen vielmals, Käpt’n“, erwiderte der Graf, „aber sicher haben wir alles, was wir brauchen. Und nochmals verbindlichen Dank für Ihr Entgegenkommen, uns Ihre Unterkunft zur Verfügung zu stellen.“
„Es ist mir ein Vergnügen“, versicherte der Kapitän und bedachte Minella mit einem bewundernden Blick.
Als sie allein waren, lief Minella aufgeregt ans Bullauge, um aufs Meer
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