Geliebte Widersacher 03 - Zaertlicher Winter
entströmte und sich mit dem frischen Tannenduft mischte.
„Kennen Sie die Familie gut?“
„Das kann man wohl sagen“, antwortete er und führte sie zum Baum. Er ließ sie am Rand der Bühne stehen, während er selbst zum Baum hinüberging und den Schmuck betrachtete. Es gab ihm etwas anderes zu tun, als ihr in die Augen zu sehen.
„Wie Sie sicher schon erraten haben“, erklärte er, „wurde Lucas arm geboren. Er war der sechste Sohn eines Straßenhändlers, der nur die absoluten Grundlagen des Lesen und Schreibens gelernt hat. Er hat begonnen, Schrott an- und wieder zu verkaufen, hat Müllhaufen durchwühlt auf der Suche nach Stücken, die er weiterveräußern konnte. Er hat jeden Pfennig gespart, den er erübrigen konnte, und hat fleißig gearbeitet, sich nicht nur seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern ein blühendes Unternehmen aufzubauen. Er hat spät im Leben geheiratet – er hat mehrere Jahrzehnte gebraucht, sich hochzuarbeiten. Nach der Hochzeit hatte seine Frau Schwierigkeiten, schwanger zu werden. Sein einziges Kind kam erst nach zwölf Jahren Ehe zur Welt, und seine Frau starb fünf Jahre später. Lucas war von da an allein für seinen Sohn verantwortlich.“
Versteckt zwischen den Zweigen hingen bemalte Zinnengel, die das Licht der Kerzen, wenn sie brannten, reflektieren würden. Vielleicht war der Baum doch keine so schlechte Tradition.
„Ich wette, er war ein guter Vater“, sagte Lydia und stellte sich zu ihm auf die Bühne. Jonas verspürte einen Stich.
„Ein sehr guter Vater.“ Jonas schnürte sich die Kehle zu. Er beugte sich vor, um sich eine Trompete aus geeistem Glas genauer anzusehen. „Streng, sicher, und genügsam, aber er hat dafür gesorgt, dass sein Sohn eine gute Erziehung erhielt. Und als der Lehrer der Kirchengemeinde kam, um ihm zu sagen, dass sein Sohn eine Begabung fürs Lernen habe, hat er …“
Eine Kette mit Glöckchen hing am Baum, und ein leiser Windstoß brachte sie zum Klingen. Es erinnerte ihn an Weihnachten, wenn sein Vater ihn am Morgen mit Glöckchen geweckt hatte und dafür gesorgt hatte, dass sich Weihnachten wie ein Familienfest anfühlte, obwohl sie doch nur zu zweit waren. An das eine Weihnachten, an dem sein Vater – der Vater, der sorgsam abwägte, bevor er ihm ein Paar Strümpfe kaufte, wenn die, die er hatte, vielleicht noch gestopft werden konnten – ihm ein extravagantes Geschenk gemacht hatte.
Jonas schluckte. „Er hat nicht gezögert, seinem Sohn ein teures mehrbändiges Lexikon zu kaufen. Der Mann, der früher Hufnägel von der Straße aufgelesen hat, der sich weigert, Zucker zu kaufen, um ein paar Schilling die Woche zu sparen. Ein anderer Mann hätte vielleicht verlangt, dass sein Sohn das Geschäft übernähme, aber stattdessen hat er, als er herausfand, dass sein Sohn die Chance hatte, zur Universität zu gehen, wenn er nur genug Geld hätte … Lucas hat den Schrotthandel, den er Jahrzehnte lang aufgebaut hatte, verkauft.“ Der Handel, von dem sein Vater geglaubt hatte, dass er nicht nur der Anfang eines Geschäftes war, sondern eines echten Imperiums. „Er hat all das für seinen Sohn aufgegeben.“
Lydia schaute ihn an. „Und das ist der Sohn, der ihm erlaubt, so zu leben …“
Er atmete den Tannenduft ein und schloss die Augen. „Das ist der Sohn, der ihn in diesem Schrotthaufen leben lässt“, bestätigte Jonas. „Eben der.“
Ihre Augen umschatteten sich. „Vermutlich ist er Anwalt oder irgendwas anderes Wichtiges geworden.“
„Vermutlich.“
„Und er hat keine Zeit mehr für seinen Vater“, bemerkte sie traurig. „Er kann nicht zu Besuch gekommen sein, seit … nicht seit all das angefangen hat. Anderenfalls hätte er es nie so weit kommen lassen.“
Jonas stieß den angehaltenen Atem aus und zwang sich, sich zu ihr umzudrehen. „Er besucht ihn“, sagte er leise. „Er besucht ihn jeden Tag. Aber er ist ratlos, was er mit ihm tun soll. Er hat versucht, den Schrott wegbringen zu lassen, aber … das letzte Mal, als er das versucht hat, wurde der Konstabler gerufen. Er hat Angst, dass sein Vater sich aufregt, wenn er es wieder versucht. An diesem Punkt ist die einzige Option, die er hat, seinen eigenen Vater – den Vater, der alles geopfert hat, um ihn zu dem zu machen, was er heute ist – für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, sein Haus gegen seinen Willen auszuräumen und seinen Vater währenddessen ruhigzustellen, damit er sich nichts antut. Was für ein Sohn würde so etwas tun?“ Er
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