Geliebter Barbar
gewesen, daß er fast vergessen hätte, was als nächstes zu tun war. Er hatte sich jedoch schnell wieder gefaßt und war im halsbrecherischen Tempo zu Lady Judiths Aufenthaltsort gejagt, damit sie sich auf ihre Besucher vorbereiten konnte.
Dazu brauchte Judith allerdings nicht lange. Seit sie durch das verzwickt-verschlungene Nachrichtensystem der Klatschgeschichten erfuhr, daß Frances Catherine schwanger war, hatte sie ihr Gepäck so gut wie vollständig gepackt und die Geschenke für ihre Freundin mit hübschen rosa Samtbändern versehen.
Frances Catherine hätte sich jedoch einen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Judith war gerade wieder zu ihrem sechsmonatigem Zwangsaufenthalt auf Onkel Tekels Gut angelangt, als sie die Nachricht erreichte. Sie konnte schlecht einfach wieder zu Tante Millicent und Onkel Herbert zurückkehren, sondern war gezwungen, ihre Bündel auf dem Stallboden zu verstecken und zu warten, bis ihre Mutter, die auf einem ihrer seltenen, kurzen Besuche da war, sich genug gelangweilt hatte und wieder abreiste. Dann würde Judith mit ihrem Vormund über ihre Absicht reden, nach Schottland zu gehen. Der ältere Bruder ihrer Mutter war das genaue Gegenteil von seiner Schwester, Lady Cornelia – ein sanftmütiger, friedlicher Mann. Es sei denn, er hatte getrunken, dann konnte er sich in eine bösartige Schlange verwandeln.
Soweit Judith zurückdenken konnte, war Onkel Tekel ein Invalide gewesen, und in den ersten Jahren hatte er selten die Beherrschung verloren, auch wenn ihm an manchen Abenden seine malträtierten Beine unerträgliche Schmerzen bereiteten. Judith wußte, daß es wieder besonders schlimm war, wenn er begann, die Beine zu massieren und den Diener bat, ihm einen Kelch heißen Weins zu bringen. Mit der Zeit hatten die Diener gelernt, ihm gleich einen vollen Krug hinzustellen. An solchen Abenden gelang es Judith manchmal, sich in ihre Kammer fortzustehlen. Normalerweise befahl er ihr aber, sich neben ihn zu setzen und ihm zuzuhören, während er in der Vergangenheit versank. Dann ergriff er ihre Hand und erzählte von den Zeiten, als er noch jung und stark war – ein Krieger, mit dem man rechnen mußte – und erst 22 Jahre alt, als ein umstürzender Wagen seine Beine zermalmte. Wenn der Wein dann seine Schmerzen gelindert und seine Zunge gelöst hatte, fluchte er über die Ungerechtigkeit dieses sinnlosen Unfalls.
Er fluchte auch über Judith, die ihn nicht wissen ließ, wie sehr sein Zorn sie traf. Die Selbstbeherrschung, die sie an diesen langen Abenden aufbringen mußte, kostete sie viel Kraft, und sie war jedesmal erleichtert, wenn sie entlassen wurde und sich zu Bett legen konnte.
Tekels Trunksucht wurde mit den Jahren immer schlimmer. Er verlangte bald schon am Tag nach Wein, und mit jedem Kelch, den er hinuntergoß, verschlimmerte sich seine Gemütsverfassung. Bei Anbruch der Nacht war er dann soweit, daß er entweder in Selbstmitleid zerfloß oder ihr die widersinnigsten Beleidigungen an den Kopf warf, die ihr die Sprache verschlugen, als hätte sie einen Kloß im Hals.
Am nächsten Morgen wußte Tekel von nichts mehr. Judith dagegen konnte sich an jedes Wort erinnern und versuchte verzweifelt, ihm seine Brutalität ihr gegenüber zu vergeben. Sie wollte glauben, daß sein Schmerz unerträglicher war als der ihre. Onkel Tekel brauchte ihr Verständnis, ihr Mitleid, redete sie sich ein.
Judiths Mutter, Lady Cornelia, hatte kein Mitgefühl für ihren Bruder. Es war ein Segen, daß sie niemals länger als einen Monat zu Hause war. Selbst dann kümmerte sie sich kaum um Onkel Tekel oder ihre Tochter. Als Judith noch klein war und viel leichter durch das kühle, distanzierte Verhalten ihrer Mutter verletzt werden konnte, pflegte Onkel Tekel sie zu trösten. Er erklärte ihr, daß sie ihre Mutter ständig an ihren Vater erinnere, den Lady Cornelia so geliebt habe, daß seine Abwesenheit ihr immer noch das Herz zerriß. Wenn sie Judith ansah, sagte Tekel, wüchse der Schmerz in ihrem Inneren so gewaltig, daß nur noch wenig Raum für andere Gefühle übrigbliebe.
Da Tekel zu dieser Zeit weniger trank, hatte Judith keinen Grund, an seiner Interpretation zu zweifeln. Dennoch konnte sie eine solche Liebe – die zwischen einem Mann und seiner Frau – damals nicht begreifen, und sie sehnte sich verzweifelt nach der Zuneigung und Anerkennung ihrer Mutter. Die ersten vier Jahre ihres Lebens hatte Judith bei ihrer Tante Millicent und Onkel Herbert verbracht. Doch dann, als sie
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