Geliebter Barbar
zum ersten Mal mit ihrer Mutter und Onkel Tekel gemeinsam die beiden besuchte, beging sie den Fehler, Onkel Herbert mit Papa anzureden. Judiths Mutter geriet in Zorn, und auch Tekel war nicht sonderlich begeistert. So beschloß Lady Cornelia, daß Judith mehr Zeit mit ihrem Bruder verbringen sollte. Sie befahl Tante Millicent, das Kind jedes halbe Jahr zu seinem Gut zu bringen.
Tekel verabscheute den Gedanken, Judith könnte ihren Onkel Herbert als Vater betrachten. Aus diesem Grund nahm er sich jeden Morgen, wenn sein Kopf noch nicht durch Wein benebelt war, eine Stunde Zeit, um ihr Geschichten über ihren richtigen Vater zu erzählen. Das lange gebogene Schwert, das über dem Herd hing, war seines gewesen. Damit hatte er die Drachen besiegt, die den Versuch gewagt hatten, England dem rechtmäßigen König abzunehmen. »Er starb in Erfüllung seiner Pflicht, den König, seinen obersten Lehnsherrn, zu schützen«, schloß Tekel seinen Bericht.
Tekels Erzählungen waren endlos … und voller Phantasie. Schon bald sah Judith ihren Vater als Heiligen, Man hatte ihr gesagt, er wäre am 1. Mai gestorben, und von nun an sammelte sie am Morgen seines Todestages jedes Jahr eine Schürze voller Frühlingsblumen und bedeckte sein Grab mit den Blüten. Dabei sprach sie ein Gebet für seine Seele, obwohl sie sicher war, daß ihre Fürsprache nicht nötig sein würde. Bestimmt war ihr Vater längst im Himmel, wo er seinem Schöpfer ebenso ergeben diente wie einst seinem irdischen Herrn.
Judith war elf und gerade auf dem Weg zum Fest an der Grenze, als sie die Wahrheit über ihren Vater erfuhr. Er starb nicht im Kampf gegen ungetreue Engländer. Er war nicht einmal selbst Engländer. Ihre Mutter beklagte auch nicht den Tod ihres Gatten – sie haßte ihn mit einer Leidenschaft, die auch die Jahre nicht verringerten. Tekel hatte ihr nur die halbe Wahrheit verraten. Ja, Judith erinnerte ihre Mutter tatsächlich ständig an etwas … und zwar an den schrecklichen Fehler, den sie damals gemacht hatte.
Tante Millicent nahm Judith beiseite und erzählte ihr alles, was sie wußte. Ihre Mutter hatte den schottischen Clansherrn aus Zorn darüber geheiratet, daß ihr Vater und der König den englischen Baron, den sie auserwählte, als nicht standesgemäß abgelehnt hatten. Lady Cornelia war es nicht gewohnt, daß man ihre Wünsche zurückwies. Und so gab sie dem Highländer zwei Monate nach ihrem ersten Treffen am englischen Hof ihr Jawort. Cornelia wollte sich an ihrem Vater rächen, wollte ihm weh tun, und dieses Ziel hatte sie damit erreicht. Aber im Gegenzug hatte sie sich selbst noch mehr Schaden zugefügt.
Die Ehe dauerte fünf Jahre. Dann kehrte Lady Cornelia nach England zurück, wo sie ihren Bruder ohne weitere Erklärungen um Obdach bat. Als es jedoch offensichtlich wurde, daß sie ein Kind erwartete, erzählte sie Onkel Tekel, ihr Mann habe sie verbannt, sobald er von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Er wollte sie nicht mehr. Und er wollte ihr Kind nicht.
Tekel beschloß, ihr zu glauben. Er war einsam, und der Gedanke, eine Nichte oder einen Neffen zu erziehen, gefiel ihm. Doch als Judith geboren war, konnte ihre Mutter ihren Anblick im Haus nicht mehr ertragen. Millicent und Herbert überredeten Tekel, ihnen das Kind zu überlassen. Sie mußten nur versprechen, Judith niemals etwas über ihren Vater zu erzählen.
Millicent dachte nicht daran, dieses Versprechen zu halten, aber sie wollte warten, bis Judith reif genug für diese Wahrheit wurde. Als sie meinte, daß es soweit war, klärte sie Judith über ihre Herkunft auf.
Judith hatte Hunderte von Fragen. Aber Millicent konnte nur wenige beantworten. Sie wußte nicht einmal, ob der schottische Clansmann noch lebte. Seinen Namen wußte sie allerdings: Er lautete Maclean.
Da sie ihn niemals kennengelernt hatte, konnte sie Judith keine Beschreibung bieten. Weil aber Judith ihrer Mutter überhaupt nicht ähnlich sah, war anzunehmen, daß ihr blondes Haar und ihre blauen Augen von ihres Vaters Seite stammten.
Für Judith waren diese neuen Informationen schlichtweg zuviel. Ihre Gedanken konnten sich nur noch auf die Lügen konzentrieren, die man ihr all die Jahre über erzählt hatte.
Zu der Zeit wartete Frances Catherine bereits auf dem Fest auf ihre Freundin. Als sie endlich allein waren, berichtete Judith ihr alles, was sie erfahren hatte. Ihre Tränen flossen. Da nahm Frances Catherine sie in den Arm und weinte mit ihr. Wozu all diese Lügen notwendig gewesen waren,
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