Geliebter, betrogener Mann
beiden anderen sahen, wie er sprach, wie sein Gesicht ernst und betreten wurde und wie er den Hörer ganz langsam, als sei er unendlich schwer oder aus zerbrechlichstem Glas, auf die Gabel zurücklegte. Dann kam er langsam zurück, den Kopf gesenkt, setzte sich still in seinen Sessel und trank einen kleinen Schluck Wein. Bader und Ludwig sahen sich an, und der Dechant war der erste, der etwas sprach.
»Was ist denn, Doktor? Mann, reden Sie … Sie sehen ganz verwirrt aus …«
»Ein Anruf aus Oberholzen von Dr. Dornburg. Tutti ist vor einer Stunde gestorben.«
Dechant Bader schlug ein Kreuz und trat an das Fenster. Ernst Ludwig stierte in sein leeres Glas.
»Sie ist verlöscht wie eine Kerze …« Dr. Wehrmann legte den Kopf weit in den Nacken und sah an die gestuckte Decke. »Als wenn sie gewußt hätte, daß mit dem neuen Kind ihr Leben einsam und damit sinnlos würde. Es ist furchtbar.«
»Man darf es Frau Pohland auf gar keinen Fall in den ersten Tagen sagen.« Dechant Bader drehte sich um. »Ich weiß, es klingt merkwürdig aus dem Mund eines Priesters, wenn er lügt … aber gerade weil ich Seelsorger bin, wird mir Gott verzeihen, daß ich einmal einen Menschen eben seiner Seele wegen hintergehe. Lassen Sie das bitte mich machen, meine Herren. Kein Wort von dieser Schreckensnachricht.«
»Und wenn sie danach fragt?«
»Ich werde antworten, wie es nötig ist.«
»Wie lange wollen Sie das hinauszögern?« Ernst Ludwig hatte als erster den Gedanken, an den niemand in dieser Situation dachte. »Das geht ja gar nicht. Nach dem Gesetz muß Tutti innerhalb von drei Tagen beerdigt sein. Wollen Sie sie heimlich in Oberholzen verscharren lassen?«
»Ich fahre hin«, sagte Dechant Bader fest. »Und Sie, Doktor?«
»Ich komme selbstverständlich mit.«
Über den Flur kam die Hebamme. Sie lachte, schüttelte den Kopf, als sie die drei Köpfe der Männer hinter der Glasscheibe sah, umgeben von Qualmnebeln und mit geröteten Augen, in denen der Alkohol stand. Sie riß die Tür auf, wehrte den herbeistürmenden Dr. Wehrmann ab und rief kurz: »Ein gesunder Junge!«
Dann warf sie die Tür wieder zu und rannte weiter zur Teeküche.
»Ein Junge!« schrie Ernst Ludwig und hob die Flasche. »Ein Junge!«
»Ein gesunder Junge! Das ist wichtig.« Dr. Wehrmann sank wie entkräftet in den Sessel zurück und fühlte, wie ihn eine hektische Fröhlichkeit überkam. Er lachte plötzlich, so laut und unmotiviert, daß Dechant Bader herumfuhr und ihn entgeistert anstarrte. »Gesund!« lachte Dr. Wehrmann. »Meine Herren! Gesund! Mein Gott, bin ich glücklich.«
»Es freut mich, daß Sie in dieser schönen Minute an Gott denken.« Dechant Bader wehrte ab, als Wehrmann etwas entgegnen wollte. »Nein, protestieren Sie nicht. Das kam Ihnen aus tiefster Seele. Ich kenne Sie viel zu genau, Doktor … das Erzvieh, das Sie uns vorspielen, ist ja nur ein Panzer um Ihre Weichheit.«
»Sie sind ein widerlicher Moralprediger!« schrie Dr. Wehrmann wütend. Aber auch dieser Ausbruch war nur eine Gegenwehr gegen das Schlucken, das in seiner Kehle saß. Er hätte weinen können in diesem Augenblick, da er von aller Qual und allen Zweifeln erlöst war. Ein gesunder Junge, dachte er. Der große Wunsch Michael Pohlands, von dessen Erfüllung ihn das Schicksal weggerissen hatte.
Professor Kanoldt stand plötzlich im Wartezimmer. Keiner hatte die Tür aufgehen hören, im Gegenteil, sie schreckten aus ihren Gedanken auf, als plötzlich eine andere Stimme zu ihnen sprach.
»Jetzt können Sie zu Frau Pohland.«
»Herr Professor!« Dr. Wehrmann und Dechant Bader sprachen gleichzeitig. Ernst Ludwig erhob sich schwankend und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Wie geht es ihr?«
»Wie allen jungen Müttern. Etwas schlapp, aber glücklich. Halt!« Er hielt Ludwig am Rock fest, als dieser aus dem Wartezimmer hinaus wollte. »Sie glauben doch nicht etwa«, sagte er zu den drei Herren, »daß ich Sie so ins Krankenzimmer lasse? Ich darf Sie bitten, mit mir zu kommen. Ich will versuchen, Sie mittels kalten Wassers wieder einigermaßen ansehnlich zu machen. Darf ich bitten?«
»Müssen wir uns das gefallen lassen, Doktor?« brummte Dechant Bader zu Dr. Wehrmann hinüber. »Ich bin noch wie ein Fels …«
»Aber die Brandung schäumt oben im Gaumen. Gehen wir.« Dr. Wehrmann winkte resignierend ab. »Professor Kanoldt ist Ordinarius. Haben Sie schon mal erlebt, daß ein Ordinarius Widerspruch duldet?«
Etwas unsicher auf den Beinen
Weitere Kostenlose Bücher