Geliebter, betrogener Mann
Wirtschaftswunders, diese Zerstückelung der deutschen Mark aus Prestigegründen – das hat mich mit diesem Pervitin vollgepumpt. Und nun bin ich hier gelandet … hier ist es wundervoll, hier ist Ruhe, hier kann ich endlich schlafen ohne Pillen und leben ohne Pillen. Aber was wird, wenn ich wieder als geheilt herauskomme und in die Tretmühle gerate? Da draußen ändert sich doch nichts! Im Gegenteil, es wird immer schlimmer. Ich darf gar nicht daran denken.«
Nach dem Essen hieß es allgemein: Bettruhe. Eine Stunde. Dr. Barnulf hatte sich von Gerda mit einem Handkuß verabschiedet.
»Sie sehen, gnädige Frau«, sagte er sarkastisch, »so wird aus reifen Männern ein Säugling gemacht. Erst das Fläschchen, dann husch ins Bett. Nur den Schnuller enthält man uns vor. Ich hoffe sehr, daß wir uns nach dem Schlummerstündchen noch sehen.«
Gerda versprach es, der Speisesaal leerte sich. Würdevoll, die Pelzstolas um die Schultern, verließen die Damen die Tische. Die Herren rauchten noch, tranken Fruchtsaft und bröckelten dann ab in die Zimmer. Lediglich ›Katharina die Große‹ zog eine Schau ab. Am Arm ihres Stationsarztes verließ sie hochgereckt den Saal und winkte gnädig nach allen Seiten. Man beachtete es nicht mehr, niemand schmunzelte; es gehörte zum Mittag- und Abendtisch, daß Majestät sich so huldvoll verabschiedete.
Nun standen Dr. Dornburg, Gerda und Michael Pohland vor dem Zimmer Tuttis, und der Arzt zögerte.
»Haben Sie eine Brille, Herr Pohland?«
»Ja. Warum?«
»Setzen Sie sie bitte auf.«
»Aber bitte, wenn Sie es wünschen.« Pohland nahm aus der Jackettasche eine dunkle Sonnenbrille mit einem dicken Schildpattgestell. Dr. Dornburg nickte sehr zufrieden.
»Das ist gut. Dunkel. Als wenn Sie blind wären.«
Pohland nahm die Brille schnell wieder ab. »Was soll das, Doktor?«
»Bitte, behalten Sie sie auf. Sie erinnern sich, was ich Ihnen sagte: Sie sind für das Kind zu gesund. Sie werden das Vertrauen Tuttis nur gewinnen, wenn Sie irgendein Gebrechen haben. Diese dunkle Brille ist gut. Sie werden sagen, daß Sie sie tragen müssen, weil Sie sehr schlecht sehen können und eine Augenentzündung haben, die unheilbar ist. Sie sollen sehen, das wird Tutti mit einem gewissen Wohlwollen registrieren.«
»Und … und meine Frau?«
»Das ist etwas anderes. Sie ist die Mutter. Sie muß gesund sein. Ebenso wie ich oder die Schwester, die Tutti betreut. Wir gehören zu den Privilegierten, aber ihre Umwelt muß unschön sein. Haben Sie nicht gesehen, daß sie alles Spielzeug bis zu einer gewissen Grenze deformiert, ehe sie damit spielt und Freundschaft schließt? Das ist eine grausame Angleichung ihrer Umwelt an ihren eigenen Zustand, den sie sehr wohl erkennen lernt. Hier ist der wach gebliebene Geist eine gnadenlose Teufelei der Natur.«
Pohland setzte seine Sonnenbrille wieder auf. Er merkte dabei, wie seine Hand zitterte. Als er zur Seite auf Gerda schielte, sah er ihr bleiches, beherrschtes, steinernes Gesicht. Er legte ihr begütigend und tröstend die Hand auf den Arm; sie verstand ihn und nickte ihm mit einem gequälten Lächeln zu.
»Kommen Sie! Zuerst die Mutter, dann Sie. Und husten Sie etwas.«
Dr. Dornburg stieß die Tür auf. Mit einem Ruck fuhr Tutti herum und preßte den Zeichenblock an die runde Brust. Sie erkannte die Mutter, ihr Schlitzmund verzog sich, ein wimmerndes Meckern kam aus dem Rachen; es mußte eine freudige Begrüßung sein, denn die wundervollen, blauen Augen leuchteten. Dann sah sie Pohland, und die Finger verkrampften sich um den Zeichenblock. Aber dann sahen die Augen mit einer offenen Frage auf den fremden Mann. Sie erkannte ihn wieder, das war außer Zweifel … aber jetzt war er anders, er trug eine dunkle Brille, tastete sich an der Wand entlang und krümmte sich nach vorn, wenn er husten mußte.
Michael Pohland spielte es, so gut er konnte. Einen Augenblick dachte er an seine Kindheit. Gut Heidfeld, sonntags, er war den ganzen Tag geritten und hatte nicht an die Schulaufgaben gedacht. Quartaner war er, auf dem Real-Reform-Gymnasium in Ebenhagen. Am Montag wollten sie eine Mathematikarbeit schreiben, und Mathematik war das Fach, in dem der Quartaner Michael Pohland das Schlußlicht der Klasse bildete. Er hatte diesen Sonntag ochsen wollen … Formeln, Gleichungen, den Pythagoras … aber er war geritten, über die Felder, durch den Laubwald, durch die Heide mit ihren Holunderbüschen und den schlanken, weißen Birken.
Am Sonntagabend, vor der
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