Geliebter Lord
tippte die militärisch exakt ausgerichteten Daumen ständig aneinander oder legte sie übereinander. Ein Teil von ihm hätte am liebsten über den Tisch gelangt und ihre Hände zur Ruhe gebracht, aber der andere war so fasziniert von der Bewegung und der Tatsache, dass sie ihre Nervosität verriet, dass er einfach nur zuschaute.
Manchmal atmete sie tief, und dann hob sich das zarte Schultertuch ein wenig, das ihr wohlgefülltes Mieder nur ungenügend verbarg.
Was würde sie sagen, wenn er ihr erklärte, dass die einzige Behandlung, die er sich wünschte, ihr Mund auf dem seinen wäre? Natürlich würde er es nicht aussprechen. Sosehr er sie auch begehren mochte – es wäre besser, sie fortzuwünschen. Frauen wie Mary Gilly blieben einem nachhaltig im Gedächtnis, und er wollte sich nicht auch noch
freiwillig
eine Erinnerung einhandeln, die ihn quälte.
Eine Weile spielten sie schweigend, was ihm die Gelegenheit verschaffte, sie ausführlich zu betrachten. Sie war bei Tageslicht genauso schön. Ein weiterer ausgesprochen jugendlicher Gedanke für einen Mann, der seine Jugendjahre längst hinter sich hatte.
Vielleicht nannten die Leute sie deshalb Engel – weil sie eine seltsame Art von Vergessen spendete. Letzte Nacht war es ebenso gewesen. Er hatte für ein paar Minuten vergessen, wer er war und was er getan hatte, und sogar ein gewisses Maß an Ruhe gefunden, nachdem er sie verlassen hatte. Vielleicht würde er heute Nacht nicht von Greueln träumen, sondern von einer brünetten Frau mit freundlichen Augen und einem gewinnenden Lächeln, die ihn sanft drängte zu schlafen.
Sie faszinierte ihn, und das war ein noch jugendlicherer Gedanke. In der vergangenen Nacht hatte sie ihn mit ihrer Unverblümtheit verblüfft. Heute Morgen hatte sie ihn amüsiert. Jetzt war er zu eingenommen von ihrer Erscheinung, um auf ihre Intelligenz zu achten.
Er bewegte eine Spielfigur, lehnte sich zurück, und wieder wurde sein Blick wie magisch von dem Mund seines Gegenübers angezogen.
Sie lächelte, und er dachte, dass er sie warnen sollte, dass nicht einmal Humor sie retten könnte. Ihr einziger Schutz gegen seine lüsternen Impulse war sein Vermächtnis der Atavasi. Wenn er sich vor ihr entblößte, würde sie fraglos schreiend davonlaufen, lieber die Dunkelheit fürchten, als seinen Anblick zu ertragen.
Wäre es anders, hätte er sich jetzt damit amüsiert, langsam das Schultertuch über ihr Dekolleté abwärtsgleiten zu lassen und anschließend das Mieder ihres Kleides zu öffnen, auf dass es freigäbe, was es jetzt zusammenhielt, und ihr den Stoff von den Schultern streifen.
Danach würde er sie von den Röcken befreien, und Mary würde die Arme in die Höhe strecken, damit er ihr das Unterkleid über den Kopf zöge. Und dann würde sie nur in Korsett und Strümpfen vor ihm stehen.
»Ich habe Euch besiegt«, riss sie ihn aus seiner Phantasie.
»Ja, das habt Ihr in der Tat.«
Ihre Augen begegneten sich, und er erkannte, dass er sie nicht hatte zum Narren halten können. Aber sie sprach ihn nicht darauf an oder wies ihren Sieg zurück. Eine wahrhaft kluge Frau.
»Tut Ihr
alles,
um Eure Patienten zu behandeln?«
Die Frage überraschte sie sichtlich. »Nein, ich glaube nicht.«
»Da Ihr gewonnen habt, bin ich Euch ausgeliefert«, sagte er. Der Einfall, sie gewinnen zu lassen, war töricht gewesen. Sie würde auf jeden Fall schneller von hier verschwinden, als sie es geplant hatte.
Eigentlich ein Jammer. Sie hätten möglicherweise einen gewissen Trost beieinander gefunden. Sollte sie wider Erwarten nicht in hellem Entsetzen vor ihm fliehen, würde er seinen niederen Instinkten vielleicht doch nachgeben. Noch ein Grund, sie fortzuwünschen, ein letzter Beschützerimpuls, sie vor dem Mann zu bewahren, zu dem er geworden war, dieser leeren Hülle ohne Herz und mit nur einem kümmerlichen Rest von Seele.
»Möchtet Ihr noch heute mit der Behandlung beginnen?«
»Es ist schon ziemlich spät«, antwortete sie. »Ich denke, wir fangen morgen früh an. Oder habt Ihr Schmerzen?«
Hamish schüttelte den Kopf. Auch über sich. Es war doch höchst seltsam, dass er einerseits nicht erwarten konnte, dass sie das Castle verließ, und andererseits den Moment ihrer Abreise hinauszögern wollte.
Besaß sie die Klugheit eines Arztes, die Weisheit einer alten Frau, die Fürsorglichkeit einer Mutter? Er könnte
all das
brauchen oder einfach nur ihr Verständnis, eine sanfte Hand auf seinem Arm, eine wortlose Akzeptanz.
Was war er
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