Geliebter Lord
Hamish herbeisehnte, und wollten sie quälen, doch irgendwann war auch das Abendessen vorbei und die Küche aufgeräumt. Mary wünschte Hester und Micah eine gute Nacht und ging mit Brendan zum Turm zurück.
Brendan hatte Hamish vor dem Essen ein Tablett hinaufgebracht und war sehr nachdenklich in die Küche zurückgekommen. Sie hatte ihn nicht gefragt, was ihn beschäftigte oder worüber er mit seinem Bruder gesprochen hatte. Vielleicht hatte Hamish ihren Rat beherzigt und endlich doch mit Brendan geredet. Falls es so wäre, hätte sie bereits einen kleinen Sieg errungen.
Als sie den Hof überquerten, schauten sie beide nach oben. Weiches Kerzenlicht leuchtete aus dem obersten Geschoss des Turms. Das verlassene Castle hatte Hamish aufgenommen, ihm Zuflucht gewährt, und Mary hatte das Gefühl, als betrachtete auch das alte Gemäuer sie und die anderen als unerwünschte Eindringlinge.
»Wem gehört diese Festung eigentlich?«, fragte sie.
»Soviel ich in Erfahrung bringen konnte, den MacLarens. Aber die haben sie schon vor zehn Jahren verlassen.«
Sie betraten den Turm, und Brendan zündete mit seiner Kerze die Wandleuchter an.
Am Fuß der Treppe blieb er stehen. »Dann überlasse ich Euch jetzt Eurem Schicksal.«
»Wünscht mir Glück – sonst wird Euer Bruder mir nicht gestatten, ihn zu behandeln.«
»Ich vertraue auf Euch – immerhin hattet Ihr einen großartigen Lehrmeister.«
Er grinste sie an, und sie lächelte und fragte sich, warum ihr das erst jetzt auffiel: Er erinnerte sie an Elspeth, ihre beste Freundin. Brendan ähnelte ihr sowohl im Wesen als auch im Temperament.
Als er sich auf den Weg zu seinem Zimmer machte, ging Mary zum Kamin und legte etwas von dem Feuerholz nach, das die Männer erst am Morgen geschlagen hatten. Noch nicht durchgetrocknet, begleitete es ihre Gedanken mit Zischen und Knacken. Sie hätte ein anderes Kleid anziehen sollen. Oder wenigstens das Schultertuch wechseln. Oder zuallermindest ihr Haar bürsten.
Er ist ein Patient.
Er ist ein Mann.
Er wurde verletzt. Gefoltert.
Auch du hast gelitten, Mary.
Der letzte Gedanke brachte sie zur Besinnung. Wie konnte sie ihren Verlust mit seiner Erfahrung gleichsetzen? Nicht einmal ihre Ängste waren zu vergleichen: Er fürchtete sich vor Alpträumen, die sich zweifellos aus den erlebten Greueln erklärten – sie fürchtete sich vor Dunkelheit und großer Höhe, wofür sie
keine
Erklärung hatte.
Die meisten ihrer Patienten waren Bekannte oder Freunde. Wenn sie zu Unbekannten gerufen wurde, eignete sie sich Informationen über sie an, indem sie genau zuhörte und scharf beobachtete, was ihr half, eine individuelle Behandlung – nicht nur der Krankheit, sondern auch des jeweiligen Menschen – zu entwickeln. Wenn jemand zum Beispiel Wolle auf der Haut als unangenehm empfand, nahm sie für einen Breiumschlag stattdessen Leinen. Wenn eine Frau den Duft von Lavendel liebte, fügte sie dem Waschwasser ein paar Zweige bei. Und um einem Kind die Angst zu nehmen, erwies sich oft sein Lieblingsspielzeug als hilfreich.
Krank sein machte Menschen empfindsam, wütend und ängstlich. Oft wurden diese Gefühle auf sie gerichtet, und sie musste sie ausräumen, bevor sie damit beginnen konnte, ihre Patienten von dem zu heilen, woran sie krankten.
Aber noch nie zuvor hatte sie den Wunsch gehabt, den sie jetzt verspürte, alles über den Mann zu erfahren, den zu behandeln sie hergekommen war. Über sein Jahr in Gefangenschaft, das zu beschreiben er sich so beharrlich weigerte. Was war ihm zugestoßen? Wo war er gewesen?
Warum war er hier?
»Ich hätte Euch in mein Zimmer bitten sollen«, sagte er plötzlich hinter ihr.
Sie straffte sich und drehte sich ihm zu.
Anders als sie trug er frische Kleidung. Das beigefarbene, weich fallende Leinenhemd war ebenso makellos wie die Hose, die in blankgeputzten Stiefeln steckte.
»Ich danke Euch, dass Ihr mir das Hinaufgehen erspart habt«, erwiderte sie.
Er runzelte die Stirn. »Ihr habt Probleme mit der Treppe?«
»Beim Treppensteigen wird mir schwindlig, auch beim Hinuntergehen. Beim Blick aus einem Fenster merkwürdigerweise nicht. Es hat irgendetwas mit meinem Gleichgewichtssinn zu tun, aber ich bin der Sache noch nicht nachgegangen.«
»Trotzdem habt Ihr mir heute Morgen mein Frühstück gebracht. Liegt Euch so viel daran, mich als Patient zu gewinnen, Mary Gilly?«
»Vielleicht«, wich sie aus. Wenn er wüsste, wie recht er hatte!
Er rückte ihr einen Stuhl zurecht, und sie setzte
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