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Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte

Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte

Titel: Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Ganzwohl
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das.«
    »Und bist du denn nicht glücklich, nicht gesprungen zu sein? Jetzt, im Nachhinein? Bist du denn nicht froh, am Leben zu sein?«, habe ich ihn gefragt.
    Seine Antwort hat mich schockiert – und auch verletzt, auch wenn ich ihm das nicht gesagt habe. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich eine romantische Liebeserklärung erwartet, so etwas wie Natürlich bin ich froh und glücklich darüber, denn sonst hätten wir beide uns nie kennengelernt . Stattdessen sagte er:
    »Das kann ich jetzt noch nicht sagen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ob ich es wirklich verdient habe, eine zweite Chance zu bekommen, werde ich wohl erst in vierzig Jahren oder so sagen können.«
    Ich stelle mir Claus auf dem unbequemen Zellenbett liegend vor, wie ich es in dem Fernsehbeitrag gesehen habe. Wie er morgens aufwacht – mit etwas Glück hat er ein, zwei Stunden geschlafen – und in den ersten Sekunden, direkt nachdem er die Augen aufgeschlagen hat, ist seine Welt noch in Ordnung; er weiß nicht einmal genau, wo er sich befindet, geschweige denn was passiert ist. Eine Art morgendliche Sekundenamnesie. Ich kenne das auch, viele Menschen haben so etwas erlebt. Sie tritt meist nach schlimmen, traurigen Erlebnissen auf. Nach wenigen, noch unbeschwerten Atemzügen fällt einem auf einen Schlag alles wieder ein. Es kommt mit einer Wucht, als würde ein Felsbrocken den Brustkorb zerschmettern. Man krümmt sich zusammen, wenn man Glück hat, kann man zumindest losheulen. Und das Tag für Tag für Tag; bei mir dauerte es fast ein Jahr, bis es aufhörte. Doch anders als ich in meiner Trennungsschmerzphase konnte Claus kein Mitleid oder Mitgefühl erwarten – nur Anklagen, Hass und Selbstvorwürfe. Anders als ich konnte er nicht davon ausgehen und hoffen, dass der Schmerz irgendwann nachlassen, dass das Leben irgendwann wieder in halbwegs normalen Bahnen verlaufen würde. Er hatte ein Leben ausgelöscht, das war nicht rückgängig zu machen. Nein, ich weiß nicht annähernd, wie sich Claus gefühlt hat, genauso wenig wie ich die unendliche Trauer von Elkes Eltern und Geschwistern oder den tiefen Schmerz von Leni nachempfinden kann. Ich kann ihr Leid höchstens ansatzweise erahnen.
    Claus unternahm in der Untersuchungshaft mehrere Selbstmordversuche; er versuchte, sich mit dem Bettlaken zu erhängen, doch er stand unter Dauerbeobachtung und konnte jedes Mal davon abgehalten werden. So traurig das auch klingt – Claus war keine Ausnahme, kein Sonderfall. Zu Selbsttötungen kommt es in Haftanstalten vier bis sechs Mal häufiger als in Freiheit, in der U-Haft ist die Rate angeblich sogar zehn Mal höher. Suizide sind in Deutschland die häufigste Todesursache in Gefängnissen, besonders hoch ist die Gefahr zu Beginn der Haft. Selbst Rückfalltäter, so las ich in einem Artikel im Internet, treffe die Verhaftung und die ersten Tage hinter Gittern »wie die elementare Wucht einer Naturkatastrophe«. Von »Statusverlust«, »Rollenverlust«, »Verlust der Sinn gebenden Arbeit« einer »Entpersönlichung« und der »Entfremdung zur Außenwelt« war da die Rede. Aus »Senior-Unternehmensberater«, »Spitzentriathlet«, »Frauentyp«, »Beziehungsmensch« war »Gefangener H.« geworden – so lautet die übliche Anrede im Gefängnis. Was für eine Metamorphose innerhalb weniger Stunden.
    Ich empfinde Mitleid mit Claus – und überlege gleichzeitig, ob das richtig ist. Darf ich Mitleid mit ihm haben, wenn ich ihn mir in dieser albtraumhaften Situation vorstelle? Er hat sich selbst in diese Lage gebracht. Er hat jemanden getötet, ein Kapitalverbrechen begangen; er hat den Hinterbliebenen ungeheuren Schmerz zugefügt; er hat nicht nur ein Leben zerstört, sondern viele – und trotzdem bedauere ich ihn. Muss ich mich dafür schämen, dass ich so empfinde?
    »Ich bin oft gefragt worden, ob es Mörder gegeben hat, die ich verstehen konnte oder die mir gar sympathisch waren. Ja, es gab sie. Mord ist nicht gleich Mord und Mörder(in) ist nicht gleich Mörder(in)«, lese ich dazu bei Mordermittler Wilfling und fühle mich etwas weniger verunsichert.
    Was in den Geschichten über Mord und Totschlag, Verhaftung, Verhör und Verurteilung auch nie erzählt wird, ist, dass das Alltagsleben draußen keine Rücksicht auf die Dramen nimmt, die sich für Opfer, Hinterbliebene und Täter abspielen. Auf den ersten Blick banaler, unwichtiger Kleinkram, der aber doch erledigt werden muss.
    Die Lebensmittel in Claus’ und früher auch Elkes Kühl schrank überschritten

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